1958 - Der Oxtorner und sein Okrill
wollte es. Seine Stiefel klebten plötzlich am Boden, als sei er in eine Pfütze schnell trocknenden Leims getreten. Der Zusammenprall glich einer Eruption. Das Zerplatzen des Sonnentresors hätte für ihn nicht schlimmer sein können. Denor spürte den Schlag und wusste, dass in seinem Körper kein einziger Knochen heil blieb. Er wartete darauf, dass sein Rücken gegen die Wand prallte. Stattdessen fühlte er sich leicht, fast schwerelos. Es ist die Reaktion des Körpers auf seine Zerstörung, durchzuckte ihn der Gedanke.
Jetzt, in diesem letzten Augenblick des Lebens, fühlte er sich wie ein Vogel in der Luft, weil der Körper die Fähigkeit der Schwerkraftanpassung verlor. Die Umrisse des Fitness-Centers explodierten vor seinen Augen in einem Farbenmeer. Bunte Funken fraßen sich in sein Bewusstsein. Doch statt es mitsamt allen seinen Empfindungen auszulöschen, stachelten sie es schmerzhaft an und entlockten ihm einen Schrei. Etwas Feuchtes überzog sein Gesicht und erinnerte ihn daran, dass sein Körper garantiert einige Liter Blut verlor. Die Farben lösten sich nach und nach auf und entfernten sich in höhere Sphären. Erlösende Dunkelheit folgte, begleitet von eindringlicher Nässe und dem Eindruck klebriger Flüssigkeit.
Denor Massall stellte verwundert fest, dass er noch bei Bewusstsein war. Er versuchte den kleinen Finger seiner rechten Hand zu bewegen - es klappte. Auch die Linke gehorchte dem Befehl des Gehirns. Dass es aber noch immer nicht aus gestanden war, merkte er daran, dass erneut klebrige Flüssigkeit über sein Gesicht lief. Der Okrill musste Leitungen in der Wand zerstört oder Schlimmeres angerichtet haben. Der Oxtorner entdeckte einen rötlichen Schimmer auf den Augen - Blut? Vorsichtig tastete er über sein Gesicht und den Hals. Die Finger glitten nach unten über den Brustkorb bis zum Bauchnabel.
Irgendetwas stimmte hier nicht. „Licht!" ächzte Denor Massall und riss die Augen auf. Er lag in seiner Kabine und trug wie gewohnt Shorts und Shirt aus Transflexolan. Soweit er es beurteilen konnte, fehlte ihm nichts. Sein Körper wies keine Verletzung auf. Nur das klebrige Gefühl im Gesicht blieb. Vorsichtig wischte er mit dem Handrücken darüber roch danach an der Flüssigkeit. Mit einem Ruck wälzte sich der Oxtorner auf die andere Seite und starrte das Ungetüm neben seinem Bett an. Tarlan wollte in diesem Augenblick wieder die Zunge ausfahren und sie ihm speicheltriefend über das Gesicht ziehen. „Nein!" keuchte Denor Massall. „Aus!" Der Okrill erweckte den Eindruck, gut erzogen zu sein, und gehorchte. Gleichzeitig krümmte er sich zusammen und robbte ein Stück von seinem Herrn weg. Dabei waren ihm die acht Beine mehr hinderlich als nützlich. Das Tier ließ ein leises Pfeifen hören.
Denor Massall stutzte und runzelte die Stirn. „Was willst du mir sagen?" flüsterte er. „Soll das heißen, du hast etwas mit meinem Alptraum zu tun?"
Der Okrill machte sich klein und schloss endgültig das Maul mit den strahlend gelben Reißzähnen.
Denor setzte sich auf die Bettkante und strich sich über die arttypische Glatze. „Warte einen Augenblick, kleiner Freund! Ich versuche diesen Traum zu deuten. Da es keinen Grund gibt, mich umzubringen, handelt es sich um eine übertriebene Darstellung von Intensität oder Aufdringlichkeit. Du willst mich also mit der Nase auf etwas stoßen. Aber worauf?" Aus dem geschlossenen Maul drang ein heiseres Fiepen. Es bedeutete, dass ihm der Okrill zustimmte. Natürlich verstand das Tier seine Worte nicht. Aber es lotete die Empfindungen seines Schützlings aus und schien sie sogar zu begreifen. Und es war in der Lage, nicht nur die Emotionen des Menschen zu erkennen, den es beschützte, sondern auch die anderer Lebewesen.
Der Tag fing also gut an. Mit einem Satz sprang Denor Massall aus dem Bett. Er ging zum Interkom und ließ sich mit der Zentrale der MERLIN ver - binden. „Ist etwas mit Vincent Garron?" erkundigte er sich. „Nein", antwortete eine ihm unbekannte Stimme. „Es ist alles in Ordnung. Er befindet sich seit über vierzehn Stunden in Trance."
„Danke." Der Oxtorner ging um den Okrill herum und verschwand in der Hygienezelle. Der Speichel auf seinem Gesicht bildete einen langsam eintrocknenden, klebrigen Film. Es war höchste Zeit, dass er ihn abwusch. „Wenn es sich wirklich um eine empathische Kettenreaktion handelt, dann geht irgend etwas vor sich", murmelte er, während er sich entkleidete und die Dusche in Gang setzte. „Und
Weitere Kostenlose Bücher