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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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1
    Endlich. Die Nacht hatte ihren gewohnten Platz eingenommen und über die Stadt den Mantel aus profunder Dunkelheit gespannt. Nicht einmal der Mond erhellte zu dieser Stunde die Straßen, er steckte hinter einer undurchdringlichen Wolkenwand fest. Somit fiel kaum Licht durch die Fenster des gotischen Hochchores, das Innere der Mutter aller märkischen Kirchen war nur zu ahnen.
    Nepomuk Böttger setzte zögerlich einen Fuß aus seinem Versteck, dem schmalen Holzschrank, in dem gewöhnlich die Gesangbücher aufbewahrt werden, und streckte dann, als er wieder die volle Bewegungsfreiheit hatte, den Körper wie eine Katze, die sich nach stundenlangem Schlaf vom Sessel erhebt. Auch er musste erst einmal die Wartezeit in dem engen Verschlag aus den Knochen schütteln. Mit der rechten Hand griff sich der Junge an die linke Brust. Sein Herz. Es machte bei plötzlich einsetzenden Anstrengungen nach längerer Pause immer mal wieder Ärger. So wie jetzt, da es ein wenig zu stechen begann.
    Als der leichte Schwindel verflogen war, machte er die ersten Schritte, streng darauf bedacht, auf dem kalten Steinfußboden möglichst kein Geräusch zu verursachen, das in den Gewölben der Kirche laut hallen würde. Er vertraute den weichen Gummisohlen der neuen Turnschuhe.
    Nach wenigen Metern streckte Nepomuk beide Arme vor und tastete nach einer Rückenlehne der letzten Stuhlreihe. Von da an, war er sich sicher, würde er sich orientieren können. Es würde die schlafwandlerische Sicherheit einsetzen, die er durch wiederholte Betrachtungen des Lageplans und ein gutes Dutzend Erkundungsbesuche in der Kirche gewonnen hatte. Auf seinen Kopf konnte Nepomuk sich stets verlassen, kein Wunder bei einem errechneten IQ von 132.
    Aber das allein würde für die heutige Mission nicht reichen. Für den großen Clou musste er auch die anderen im Griff behalten, und die scheiterten ohne Taschenrechner schon an der Wurzel aus neun.
    Er tastete sich weiter voran und kam schließlich zum letzten Stuhl der Reihe. Da war er endlich, der Mittelgang, der direkt zum Altar führte. In den letzten Wochen hatte er hier während seiner Ausspähunternehmungen mehrere Male gestanden, allerdings immer umringt von anderen Besuchern des Doms St. Peter und Paul und immer bei Tageslicht. Und immer war sein Blick nach oben gewandert, dahin, wo das grandiose Instrument stand.
    Die alte Wagnerorgel.
    Tief sog er die muffige Luft der Kirche ein und schloss die Augen. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was die Dunkelheit um ihn herum verschluckte. Bei Tageslicht waren die Figuren von Peter und Paul in der schwungvollen Fassade der Orgel ebenso wie der preußische Adler in ihrem reichen Schnitzwerk gut zu sehen. Doch jetzt konnte er davon nichts mehr erkennen.
    »Pssst, Nepo, können wir kommen?«
    Es war Kevin, einer der Jungen, die Nepomuk für seinen großen Coup rekrutiert hatte. Er lugte müde aus dem zweiten Holzschrank.
    »Ja«, gestattete Nepomuk. »Aber seid leise und lasst die Lampen noch aus.«
    Er hatte im Treckingladen in der Steinstraße fünf Stirnlampen gekauft und jedem Crewmitglied eine in die Hand gedrückt, als sie sich gegen zwanzig Uhr an der Näthewindebrücke getroffen hatten, von wo aus sie zum Dom gegangen waren. Dort hatten sie nur knapp zehn Minuten warten müssen, dann hatte sich die Dame, die ansonsten den ganzen Tag hinter einem Tisch mit Büchern und CD zubrachte, erhoben und war zu ihrer Kollegin ins Dommuseum verschwunden. Ihre Abwesenheit hatten die Jungen sofort genutzt und sich in die beiden Schränke gedrückt.
    Kevin und die anderen drei standen jetzt direkt neben Nepomuk. Er konnte sie sogar riechen.
    »Habt ihr die Uhren dabei?« Auch die waren eine Anschaffung für die heutige Nacht.
    »Ja, haben wir«, kam es unisono aus drei Mündern.
    »Still!«, herrschte Nepomuk seine Crew an, die ihm nach seinem Empfinden etwas zu laut geantwortet hatten. »Wir dürfen möglichst keine Geräusche machen, eigentlich auch nicht sprechen.«
    »Okay«, flüsterte Kevin. »Aber eine Frage habe ich noch.«
    »Und welche?«
    »Wenn wir fertig sind und noch ein bisschen Zeit haben, können wir nicht doch …«
    »Nein.«
    »Aber …«
    »Nein, habe ich gesagt«, zischte Nepomuk unwirsch. »Wir sind keine gemeinen Ganoven, die sich an Kunstschätzen vergreifen. Ist das klar?«
    Es blieb still, niemand übte Widerspruch.
    »Und deshalb treffen wir uns nach dem Abseilen wie verabredet hinten an der Brücke über den Domstreng. Dafür hat jeder

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