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Der Sohn des Alchemisten

Der Sohn des Alchemisten

Titel: Der Sohn des Alchemisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Erschrocken starrte Marie auf die flatternden Blätter. Bewegte sich da nicht etwas im Holunderbusch? Aus den Augenwinkeln hatte sie ein kleines Huschen wahrgenommen. Und in den Ästen hatte es geknackt.
    Hoffentlich keine Hollergeister, dachte sie und stellte den Korb mit den Eiern ab, die sie gerade hinter dem Misthaufen bei den Hühnern gesammelt hatte. Holunderbüsche waren schließlich bekannt dafür, dass in ihnen die Hollergeister hausten, die die Menschen neckten und narrten. Aber am helllichten Tag? Merkwürdig.
    Vielleicht hat sich ja ein Huhn verlaufen und sein Ei unter den Busch gelegt, dachte sie und trat näher zum Busch. Nein. Kein Gackern war zu hören.
    Da passierte es. Die Zweige hoben sich. Jemand gab ein grunzendes Geräusch von sich.
    Marie schrie leise auf.
    Vor ihre Füße purzelte ein Junge, der weder wie ein Huhn noch wie ein Hollergeist aussah, sondern ziemlich wie aus Fleisch und Blut.
    »So ein Mist«, hörte sie ihn schimpfen, »auch das noch!«
    Marie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Junge versuchte verzweifelt, seine Beine zu entwirren, die sich in seinem Beutel und in einer Brombeerranke verfangen hatten. Seine Füße steckten in groben ledernen Stiefeln, an seinem Gürtel hing eine Kürbisflasche und in der Hand hielt er einen Wanderstab.
    »Lach bloß nicht«, schimpfte er, während er die stachelige Brombeerranke vorsichtig von seiner Hose zupfte. »Im mer passiert mir so etwas! Letzte Nacht bin ich schon in einem Sumpf stecken geblieben, habe mich auf einen Ameisenhaufen gesetzt und bin gegen einen Baum gerannt. Ganz zu schweigen von dem Sturz von meinem Maultier! Und jetzt kugle ich auch noch dir vor die Füße, wie ein Idiot! Es ist zum Mäusemelken!«
    Marie betrachtete den fremden Jungen von oben bis unten. Seine wollene Jacke war von Schlamm überkrustet, seine Arme sahen ziemlich zerkratzt aus und auf der Stirn hatte er eine dick geschwollene Beule.
    »Was machst du auch nachts im Wald!«, war alles, was ihr schließlich einfiel. »Da liegt jeder anständige Mensch im Bett!«
    »Was denkst du wohl, wie gern ich das auch gemacht hätte!«, erwiderte der Junge. »Aber leider kamen mir Räuber dazwischen!«
    »Räuber?« Marie sah sich erschrocken um. »Bei uns im Wald?«
    Der Junge grinste. »Nein, nicht direkt. Es liegen mindestens ein Sumpf, ein Ameisenhaufen und fünf Stunden Fußmarsch dazwischen.«
    »Was wollten denn die Räuber von dir?«, fragte Marie weiter und half dem Jungen auf die Füße.
    »Wegezoll«, sagte er und blickte sie an.
    »Wegezoll?«, fragte Marie verständnislos zurück.
    »Geld! Kohle! Pinkepinke! Das wollten sie!«, erklärte er. »Ich bin ein Pilger! Ein Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela, zu den Gebeinen des heiligen Jakobus! Kapiert?«
    Pilger? Dieser Junge sollte ein Pilger sein? Marie hatte schon einige Pilger gesehen, denn auf den Anhöhen verlief die Straße Richtung Santiago de Compostela, wohin seit Menschengedenken Leute aus aller Herren Länder pilgerten. Aber die Pilger, die sie dort oben entlangwandern gesehen hatte, waren ehrwürdige Herrschaften gewesen, wohlgekleidet, mit langen Mänteln und breiten Hüten. Und mit Packpferden.
    »Pilger auf dem Weg nach Galizien müssen immer damit rechnen, überfallen zu werden«, sagte der Junge und strich sich über seine Beule an der Stirn. »Bei mir war es schon der dritte Überfall. Pah! Aber wenn du denkst, die Räuber hätten mich eingeschüchtert, dann täuschst du dich! Räuber wollen ja immer nur ein paar Münzen, dann lassen sie dich wieder laufen, das weiß jeder echte Jakobspilger.Wenn sie die Pilger abmurksen würden, dann würden sie ja alle andern vergraulen und verschrecken. Und die Pilger brauchen sie ja, denn wem sollten sie sonst das Geld abknöpfen?«
    Dass es irgendwo auf der Welt Räuber geben sollte, das konnte man sich an diesem Morgen kaum vorstellen, so freundlich lag die Sonne über der Mühle im Erlenschlag. Gleichmäßig drehte sich das große Rad im Bachlauf und die ganze Welt duftete nach Sommer.
    »Wenn du ein Pilger bist«, fragte Marie neugierig, »was bitte schön machst du dann bei uns im Gebüsch? Da führt kein Weg nach Santiago! Da liegt unser Misthaufen!«
    »Ich weiß, ich weiß«, knurrte der Junge mürrisch. »In den bin ich auch schon getreten.«
    Er blickte sehnsüchtig auf die Eier im Korb.
    »Hunger hatte ich eben«, fügte er schließlich kleinlaut hinzu. Er rutschte ein wenig näher zu dem Eierkorb. Dann räusperte er sich.

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