Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
Einzelheit seines Lebens war bloßgelegt, verstanden und vergeben.
    Er fuhr von der Pritsche hoch, in der halben Gewißheit, O'Briens Stimme gehört zu haben. Während seines ganzen Verhörs hatte er, obwohl er ihn nie gesehen hatte, das Gefühl gehabt, O'Brien stehe unmittelbar neben ihm, er sei es, der alles leitete. Er sei es, der die Wachen auf Winston hetzte und der sie daran hinderte, ihn zu töten. Ihm war, als entschied O'Brien darüber, wann Winston vor Schmerz schreien, wann er seine Erholungspause haben, wann er etwas zu essen bekommen, wann er schlafen sollte und wann die Drogen in seinen Arm eingespritzt werden sollten. Er stellte die Fragen und bestimmte die Antworten.
    Er war der Peiniger, der Beschützer, der Inquisitor, der Freund. Und einmal – Winston konnte sich nicht erinnern, ob es im narkotischen oder im Normalschlaf oder gar in einem Augenblick des Wachzustandes war – murmelte ihm eine Stimme ins Ohr: »Keine Angst, Winston, du bist in meiner Hut. Sieben Jahre habe ich dich beobachtet. Nun ist der Wendepunkt gekommen. Ich werde dich retten, dich zum Rechten führen.« Er war nicht sicher, ob es O'Briens Stimme war; aber es war die gleiche Stimme, die in jenem anderen Traum vor sieben Jahren zu ihm gesagt hatte: »Wir werden uns an einem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.«
    Er erinnerte sich nicht, daß sein Verhör jemals ein Ende genommen hätte. Es kam eine Zeitspanne, wo alles schwarz war, und dann hatte die Zelle oder das Zimmer, in dem er sich nun befand, langsam um ihn herum Gestalt angenommen. Er lag fast flach auf dem Rücken und war außerstande, eine Bewegung zu machen. Sein Körper wurde an jedem in Frage kommenden Punkt niedergehalten. Sogar sein Hinterkopf war auf irgendeine Weise festgeklammert. O'Brien blickte ernst und fast traurig auf ihn herunter. Sein Gesicht sah von unten gesehen derb und abgespannt aus, mit Säcken unter den Augen und müden Linien von der Nase zum Kinn. Er war älter, als Winston gedacht hatte; er war vielleicht achtundvierzig oder fünfzig Jahre alt. Seine Hand lag auf einer Skala mit einem Hebel darauf, mit rings um die Scheibe angeordneten Zahlen.
    »Ich sagte Ihnen«, erklärte O'Brien, »wenn wir uns wieder träfen, würde es hier sein.«
    »Ja«, sagte Winston.
    Ohne jede Warnung, außer einer kleinen Bewegung von O'Briens Hand, durchflutete eine Schmerzenswelle seinen Leib. Es war ein erschreckender Schmerz, denn er konnte nicht sehen, was vor sich ging, und hatte das Gefühl, als würde ihm eine todbringende Verletzung zugefügt. Er wußte nicht, ob sich der Vorgang wirklich abspielte oder die Wirkung elektrisch hervorgebracht wurde; aber sein Leib wurde aus der Form gedehnt, die Gelenke langsam auseinandergezerrt. Obwohl der Schmerz den Schweiß auf seiner Stirn hatte ausbrechen lassen, war doch das Schlimmste vor allem die Angst, sein Rückgrat sei im Begriff, auseinander zureißen. Er biß die Zähne zusammen und atmete angestrengt durch die Nase in dem Bemühen, sich so lange wie möglich still zu verhalten.
    »Sie haben Angst«, sagte O'Brien, der sein Gesicht beobachtete, »daß im nächsten Augenblick etwas birst. Sie fürchten besonders, daß es Ihr Rückgrat sein könnte. Ihnen schwebt lebhaft das Bild vor, daß die Rückenwirbel auseinander schnappen und das Rückenmark zwischen ihnen heraustropft. Das sind Ihre Gedanken, stimmt's, Winston?«
    Winston antwortete nicht. O'Brien drehte den Hebel auf der Scheibe zurück. Die Schmerzenswelle ebbte fast ebenso schnell ab, wie sie gekommen war.
    »Das wäre Stärke vierzig«, bemerkte O'Brien. »Sie können sehen, daß die Zahlen auf dieser Skala bis hundert reichen. Wollen Sie bitte während unserer ganzen Unterhaltung daran denken, daß es in unserer Macht steht, Ihnen in jedem Augenblick und in jedem von mir gewünschten Grad Schmerz zuzufügen.
    Wenn Sie mir Lügen auftischen oder irgendwelche Ausflüchte zu machen versuchen, oder auch nur sich dümmer stellen, als Sie sind, werden Sie sofort vor Schmerz aufschreien. Haben Sie verstanden?«
    »Ja«, sagte Winston.
    O'Briens Art und Weise wurde weniger streng. Er rückte nachdenklich seine Brille zurecht und machte ein paar Schritte hin und her. Als er sprach, war seine Stimme sanft und geduldig. Er sah aus wie ein Arzt, ein Lehrer, ja sogar wie ein Priester, mehr darauf bedacht, zu erklären und zu überreden, als zu bestrafen.
    »Ich gebe mir Mühe mit Ihnen, Winston«, sagte er, »denn bei Ihnen lohnt sich die Mühe. Sie

Weitere Kostenlose Bücher