1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Zwangsarbeiterlager, ließen ihn vielleicht eine Weile frei, wie sie das manchmal machten. Es war durchaus möglich, daß er, bevor er erschossen wurde, das ganze Trauerspiel seiner Festnahme und seines Verhörs noch einmal von vorne durchmachen mußte. Eines jedenfalls war gewiß, daß der Tod nie in einem erwarteten Augenblick kam. Das übliche Verfahren – das stillschweigende Verfahren, von dem man irgendwie wußte, obwohl nie darüber gesprochen wurde – bestand darin, daß sie einen hinterrücks erschossen: immer in den Hinterkopf, und zwar ohne Warnung, während man von Zelle zu Zelle den Gang entlangging.
Eines Tages – aber »eines Tages« war nicht die richtige Bemerkung; ganz ebenso wahrscheinlich konnte es mitten in der Nacht gewesen sein: – einmal also verfiel er in eine seltsame, selige Träumerei. Er ging den Gang hinunter in Erwartung der Kugel. Er wußte, daß sie im nächsten Moment kommen würde. Alles war entschieden, geklärt, versöhnt. Es gab keine Zweifel mehr, keine Streitfragen, keinen Schmerz, keine Angst.
Sein Körper war gesund und stark. Er ging leichten Schrittes, mit einer Freude an der Bewegung und in dem Gefühl, im Sonnenlicht zu wandeln. Es war nicht mehr in den engen grellweißen Gängen des Ministeriums für Liebe, er befand sich in dem riesigen, einen Kilometer breiten Durchlaß, von dem es ihm so vorgekommen war, als durchwandle er ihn in einem durch Drogen herbeigeführten Wahn. Er war im Goldenen Land und folgte dem Fußpfad durch die alte, von Kaninchen bevölkerte Weide. Er konnte den kurzgeschorenen, federnden Rasen unter seinen Füßen und den milden Sonnenschein auf seinem Gesicht fühlen. Am Rande des Feldes standen leise sich wiegend die Ulmen, und irgendwo dahinter war der Fluß, in dem sich die Weißfische in den grünen Tümpeln unter den Hängeweiden tummelten.
Plötzlich fuhr er in jähem Erschrecken hoch. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er hatte sich laut ausrufen hören:
»Julia! Julia! Julia, Geliebte! Julia!«
Einen Augenblick hatte ihn überzeugend die Täuschung überkommen, sie sei da. Es hatte ihm geschienen, als sei sie nicht nur bei ihm, sondern in ihm. Es war, als sei sie unter das Gewebe seiner Haut gekrochen. In diesem Augenblick hatte er sie weit mehr geliebt als je zuvor, als sie noch zusammen und frei waren. Auch wußte er, daß sie irgendwo noch am Leben war und seiner Hilfe bedurfte.
Er legte sich auf dem Bett zurück und versuchte, sich zu fassen. Was hatte er angerichtet? Wie viele Jahre hatte er seiner Knechtschaft durch diesen Augenblick der Schwäche hinzugefügt? Im nächsten Augenblick würde er draußen den Schritt schwerer Stiefel hören. Seine Peiniger konnten einen solchen Ausbruch nicht ungestraft hingehen lassen. Sie würden jetzt wissen, wenn sie es nicht schon vorher gewußt hatten, daß er das mit ihnen getroffene Abkommen brach. Er gehorchte der Partei, aber noch immer haßte er sie. In den vergangenen Tagen hatte er einen aufrührerischen Geist hinter zur Schau getragener Fügsamkeit versteckt. Jetzt hatte er sich einen Schritt weiter zurückgezogen: er hatte im Geist nachgegeben, jedoch gehofft, sein Herzinneres unversehrt zu bewahren. Er wußte, daß er im Unrecht war, aber lieber wollte er im Unrecht sein. Sie würden das erkennen – O'Brien würde es erkennen. All das war in diesem einzigen törichten Schrei eingestanden.
Er würde noch einmal ganz von neuem anfangen müssen. Es konnte Jahre dauern. Er fuhr sich mit der einen Hand übers Gesicht, in dem Versuch, sich mit dessen neuer Form vertraut zu machen. Er hatte tiefe Furchen in den Wangen, die Backenknochen standen hervor, die Nase war abgeplattet. Außerdem hatte er, seitdem er sich zum letzten Mal im Spiegel gesehen hatte, ein vollständig neues Gebiß bekommen. Es war nicht leicht, ein undurchdringliches Gesicht zu machen, wenn man nicht wußte, wie das eigene Gesicht aussah. Jedenfalls, nur das Gesicht zu wahren, genügte nicht. Zum erstenmal erkannte er, daß jemand, der ein Geheimnis bewahren will, es auch vor sich selbst bewahren muß. Man muß ständig um sein Vorhandensein wissen, aber bis die Notwendigkeit besteht, darf man es nie in irgendeiner benennbaren Form ins eigene Bewußtsein dringen lassen. Von jetzt an mußte er nicht nur richtig denken, er mußte richtig fühlen, richtig träumen. Und die ganze Zeit mußte er seinen Haß in sich verschlossen halten wie eine Gewebewucherung, die ein zu ihm gehöriger Bestandteil war und doch
Weitere Kostenlose Bücher