Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
was es war.
    »Das Schlimmste auf der Welt«, sagte O'Brien, »ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben werden sein oder Tod durch Verbrennen, durch Ertränken, durch Aufpfählen, oder fünfzig andere Todesarten. Es gibt Fälle, bei denen es eine ganz nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist.«
    Er war ein wenig beiseite getreten, so daß Winston den Gegenstand auf dem Tisch besser sehen konnte.
    Es war ein länglicher Drahtkäfig, mit oben einem Griff zum Tragen. An der Vorderseite war etwas befestigt, das wie eine Fechtmaske aussah, mit der Hohlseite nach außen. Obwohl es drei oder vier Meter von ihm entfernt stand, konnte er sehen, daß der Käfig der Länge nach in zwei Abteilungen geteilt war, und in jeder befand sich ein Lebewesen. Es waren Ratten.
    »Für Sie«, sagte O'Brien, »sind zufällig das Schlimmste auf der Welt Ratten.«
    Eine Art warnendes Zittern, eine Furcht vor – er wußte nicht genau was – hatte Winston bei seinem ersten Blick auf den Käfig befallen. Aber in diesem Augenblick kam ihm plötzlich eine Erleuchtung, zu was die vorne befestigte maskenartige Vorrichtung diente. Ihm schien der Boden unter den Füßen zu wanken.
    »Das können Sie nicht tun!« rief er mit schriller brechender Stimme. »Nur das nicht, nur das nicht! Es ist unmöglich.«
    »Erinnern Sie sich«, sagte O'Brien, »an das Panikmoment, das sich in Ihren Träumen einzustellen pflegte? Vor Ihnen tat sich eine dunkle Mauer auf, und in Ihren Ohren vernahmen Sie ein heulendes Geräusch. Etwas Schreckliches lauerte auf der anderen Seite der Mauer. Sie waren sich bewußt, daß Sie wußten, was es war, aber sie wagten nicht, es ans Licht zu ziehen. Es waren die Ratten, die sich auf der anderen Seite der Mauer befanden.«
    »O'Brien!« rief Winston mit einer Anstrengung, seine Stimme in die Gewalt zu bekommen. »Sie wissen, daß das nicht notwendig ist. Was wollen Sie, das ich tun soll?«
    O'Brien gab keine direkte Antwort. Als er sprach, war es in der schulmeisterlichen Art, die er manchmal an den Tag legte. Er blickte nachdenklich in die Ferne, so als wende er sich an eine Zuhörerschaft im Rücken von Winston.
    »Schmerz als solcher«, sagte er, »genügt nicht immer. Es gibt Gelegenheiten, wo ein Mensch dem Schmerz standhält, sogar bis zum Tode. Aber für jeden Menschen gibt es etwas Unerträgliches – etwas, das er nicht ins Auge fassen kann. Das hat nichts mit Mut oder Feigheit zu tun. Wenn man aus einer Höhe herunterstürzt, ist es nicht feig, sich an ein Seil zu klammern. Wenn man aus der Tiefe des Wassers emportaucht, ist es nicht feig, die Lungen mit Luft voll zupumpen. Es ist lediglich ein Instinkt, gegen den man sich nicht wehren kann. Das gleiche gilt von den Ratten. Sie sind eine Form des Zwanges, dem Sie nicht Widerstand leisten können, sogar wenn Sie wollten, Sie werden tun, was man von Ihnen verlangt.«
    »Aber was ist es, was ist es? Wie kann ich es tun, wenn ich nicht weiß, was es ist?«
    O'Brien ergriff den Käfig und brachte ihn herüber zu dem näheren Tisch. Er stellte ihn behutsam auf die Flanelldecke. Winston konnte das Blut in seinen Ohren sausen hören. Er hatte das Gefühl, in völliger Einsamkeit dazusitzen. Er befand sich in der Mitte einer großen leeren Ebene, einer von Sonnenlicht durchtränkten flachen Wüste, über die alle Geräusche aus ungeheuren Entfernungen zu ihm drangen. Dabei war der Käfig mit den Ratten keine zwei Meter von ihm entfernt. Es waren riesige Ratten. Sie waren in dem Alter, in dem die Schnauze einer Ratte rauh und grimmig und ihr Fell braun statt grau wird.
    »Die Ratte«, sagte O'Brien, noch immer an seine unsichtbare Zuhörerschaft gewendet, »ist, obwohl ein Nagetier, doch ein Fleischfresser. Halten Sie sich das vor Augen. Sie werden von den Dingen gehört haben, die in den Armenvierteln dieser Stadt passieren. In manchen Straßen wagt eine Frau ihren Säugling nicht einmal fünf Minuten allein im Haus zu lassen. Die Ratten würden das Kind bestimmt angreifen. In ganz kurzer Zeit würden sie es bis auf die Knochen abnagen. Sie greifen auch Kranke oder Sterbende an. Sie legen eine erstaunliche Intelligenz darin an den Tag, zu wissen, wann ein Mensch hilflos ist.«
    Vom Käfig her hörte man jetzt ein lautes Quieken. Es schien aus weiter Ferne an Winstons Ohr zu dringen. Die Ratten rauften miteinander; sie versuchten, einander durch das Trennungsgitter anzufallen. Er hörte auch ein tiefes Verzweiflungsstöhnen. Auch das schien nicht von ihm

Weitere Kostenlose Bücher