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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Beckett
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1
    15. April
    Als ich sieben war, habe ich dem Lehrer mal die Kreide geklaut. Ich brauchte sie für ein Spiel. Ein Mädchen aus meiner Klasse namens Susanna verpetzte mich und zur Strafe musste ich in der Mittagspause drinnen bleiben. An diesem Nachmittag habe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Schule geschwänzt. Ich habe Susannas Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen und bin zu Fuß zu ihr nach Hause gegangen. Als ich sicher war, dass keiner da war, habe ich ihre beiden Kaninchen erwürgt. Danach ging es mir besser.
    Man schickte mich zu einem Kinderpsychologen. Er diagnostizierte einen stark ausgeprägten Racheinstinkt. Ich weiß noch, dass es viele Gespräche gab und ich Bilder malen sollte. Irgendwann erklärte er dann, die Therapie sei erfolgreich abgeschlossen. Aber das war leider falsch.
    Gestern Abend habe ich den Arzt gesehen und wusste sofort, was ich tun musste. Ich habe keine Wahl. Ich werde ihn töten. Ich habe ihn nur kurz auf der Station gesehen. Er hat so getan, als wäre er ein ganz normaler Arzt. Als könnten die Risse, die beim Erdbeben entstanden sind, seine Vergangenheit verschlucken.
    Am liebsten hätte ich ihn so lange angestarrt, bis er sich umgedreht und die Mordlust in meinem Blick entdeckt hätte. Dann hätte er vielleicht etwas von der Angst gespürt, die er verdient. Doch das ist sein Revier und ich bin nicht dumm. Meine einzige Waffe ist die Überraschung. Und weil ich das weiß, konzentriere ich mich darauf zu überleben.
    Wenn mich jemand vor zwölf Tagen gefragt hätte, was Überleben bedeutet, hätte ich es nicht sagen können. Ich weiß, dass es zwölf Tage waren, weil es der Nachrichtensprecher in Lewis' kleinem Plastikradio gesagt hat. Lewis liegt im Bett gegenüber. Aber er ist fast nie da. Er wandert den ganzen Tag barfuß den klebrigen Fußboden der Station rauf und runter. In unruhigen Zeiten wie diesen steht Putzen ganz unten auf der Liste. Während er mit einer Hand das Radio ans Ohr presst, fummelt er mit der anderen am Eingriff seiner Schlafanzughose herum. Als wollte er allen zeigen, wie wenig ihm noch geblieben ist. Vielleicht tut er auch nur so, genau wie ich. Nur aus einem anderen Grund.
    Zwölf Tage seit dem Erdbeben. Die Plünderungen sind endlich unter Kontrolle, wenn es stimmt, was sie im Radio sagen. Die Straße nach Norden ist wieder befahrbar, allerdings nur für offiziellen Verkehr. Und der Flugplatz kann möglicherweise nicht wieder aufgebaut werden. Man könnte mich also gar nicht besuchen kommen, selbst wenn jemand wüsste, dass ich hier bin. Es gibt immer noch keinen Strom, bis auf die Notstromaggregate. Die offizielle Anzahl der Toten beträgt siebenhundertdreiundzwanzig.
    Dann schlurfte Lewis weiter den Flur entlang, wo ich ihn nicht mehr hören konnte, und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
    Zwölf Tage. Fünf Tage davon war ich auf jeden Fall draußen in den Bergen, das weiß ich noch. Und heute ist der zweite Tag hier drin, an dem ich die Pillen nicht mehr nehme, die sie mir auf dem klapprigen Rollwagen bringen. Fehlen fünf Tage. Tage, in denen ich draußen auf der Weide lag, ehe sie mich gefunden haben. Oder bewusstlos hier drin mit Millilitern des Vergessens, die mir Tropfen für Tropfen ins Blut flossen. Genug Zeit für den Arzt, um Pläne zu schmieden und Ausreden für die Medikamente zu erfinden, von denen er glaubt, dass er sie mir verabreicht. Aber ich habe jetzt meine eigenen Pläne. Kaninchenpläne. Rachepläne. Pläne, die aus dem Überleben wieder Leben machen werden.

2
    Eigentlich wollte ich den Outdoorkurs gar nicht mitmachen. Mum hielt nicht viel davon. »In der elften Klasse sind andere Kurse wichtiger«, sagte sie. Aber ich wusste, dass ihr vor allem die zusätzlichen Kosten Sorgen machten. Damals hatten wir noch keine Ahnung, wie hoch der Preis tatsächlich sein würde.
    Mr Camden hat mich angelockt. So wie er das schon seit fünfzehn Jahren tut. Am Ende des zehnten Schuljahrs fand eine Informationsveranstaltung statt, bei der sämtliche Kurse vorgestellt wurden, die wir in der elften Klasse belegen konnten. Die meisten Lehrer schlurften zum Pult und nuschelten Sachen ins Mikrofon, an die sie ganz offenkundig selbst nicht so recht glaubten. Von wegen »Mathematikkarriere« und so. Es war also nicht schwer für Mr Camden, Eindruck zu machen.
    Er stellte sich vor uns hin und strahlte übers ganze Gesicht, als wären wir der Grund, warum er am Leben war. Ich sah, wie einige Lehrer hinter ihm die Augen verdrehten. Aber er

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