1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
sagte der Wirt kurz angebunden. »Liter und Halbliter, das ist alles, was wir ausschenken. Dort, vor Ihnen auf dem Bord, stehen die Gläser.«
»Ich möchte eine Pinte«, sagte der alte Mann beharrlich. »Sie könnten mir genauso gut eine Pinte einschenken. Wir kannten diese blöden Liter nicht, als ich ein junger Mann war.«
»Als Sie ein junger Mann waren, lebten wir alle noch auf den Bäumen«, sagte der Wirt mit einem Seitenblick auf die Gäste.
Eine Lachsalve brach los, und die durch Winstons Eintritt verursachte Verlegenheit schien überwunden.
Das mit weißen Bartstoppeln übersäte Gesicht des alten Mannes war leicht gerötet. Vor sich hinbrabbelnd wandte er sich von der Theke weg und prallte gegen Winston. Dieser fing ihn sanft am Arm auf.
»Darf ich Sie zu einem Glas einladen?« fragte er.
»Sie sind ein Gentleman«, sagte der andere und reckte wieder seine Schultern. Er schien Winstons blauen Trainingsanzug nicht bemerkt zu haben. »Eine Pinte!« fügte er angriffslustig an den Schenkkellner hinzu. »Eine Pinte Dunkles.«
Der Wirt ließ zwei Halbliter dunkelbraunes Bier in dicke Gläser zischen, die er in einem Eimer unter der Theke ausgespült hatte. Bier war das einzige Getränk, das man in den Proles-Kneipen bekommen konnte.
Die Proles sollten keinen Gin trinken, wenn sie ihn sich auch praktisch recht leicht beschaffen konnten. Das Pfeilwerfen war jetzt wieder voll im Gange, und die Menschengruppe an der Theke hatte über Lotterielose zu sprechen begonnen. Winstons Anwesenheit war für eine Weile vergessen. Unter dem Fenster stand ein kleiner Abstelltisch, wo er und der alte Mann, ohne Furcht, belauscht zu werden, plaudern konnten. Es war schrecklich gefährlich, aber auf alle Fälle war kein Televisor in dem Lokal, eine Tatsache, deren sich Winston gleich beim Hereinkommen vergewissert hatte.
»Er hätte mir ruhig eine Pinte einschenken können«, brummte der alte Mann, während er hinter seinem Glase Platz nahm. »So ist es mir zuwenig. Und ein ganzer Liter ist wieder zuviel. Er schlägt mir auf die Blase.
Ganz abgesehen vom Preis.«
»Seit Sie ein junger Mann waren, müssen Sie große Veränderungen erlebt haben«, sagte Winston, um erst einmal vorzufühlen.
Die blaßblauen Augen des alten Mannes wanderten von der Scheibe der Pfeilwerfer zur Theke und von der Theke zu der Tür mit der Aufschrift »Männer«, als wäre von den Veränderungen die Rede, die sich in der Wirtsstube vollzogen hatten.
»Das Bier war besser«, sagte er schließlich. »Und billiger! Als ich ein junger Mann war, kostete das Bier – Braunbier pflegten wir es zu nennen – vier Pence die Pinte. Das war freilich vor dem Krieg.«
»Welcher Krieg war das?« fragte Winston.
»Ein Krieg ist wie der andere«, sagte der alte Mann verschwommen. Er hob sein Glas, und seine Schultern reckten sich wieder. »Auf Ihr Wohl!«
Der scharf vorspringende Adamsapfel an seinem mageren Hals machte eine erstaunlich schnelle Bewegung auf und ab, und das Bier war verschwunden. Winston ging an die Theke und kam mit zwei weiteren Halblitergläsern zurück. Der alte Mann schien seine Bedenken gegen den ganzen Liter vergessen zu haben.
»Sie sind sehr viel älter als ich«, sagte Winston. »Sie müssen schon ein erwachsener Mann gewesen sein, ehe ich geboren wurde.
Sie können sich sicher erinnern, wie es vor der Revolution ausgesehen hat. Menschen in meinem Alter wissen wirklich gar nichts von dieser Zeit. Wir können nur in Büchern davon lesen, und was in den Büchern steht, stimmt vielleicht nicht. Ich wüßte gerne Ihre Meinung darüber. In den Geschichtsbüchern wird behauptet, daß das Leben vor der Revolution vollständig anders gewesen sei als heute. Die schreckliche Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Elend – schlimmer als alles, was wir uns vorstellen können. Hier in London hatte die große Masse des Volkes von der Wiege bis zum Grabe nie genug zu essen. Die Hälfte der Menschen besaß nicht einmal Schuhe an den Füßen. Sie arbeiteten zwölf Stunden am Tag, gingen mit neun Jahren von der Schule ab, schliefen zu zehnt in einem Zimmer. Und gleichzeitig gab es einige wenige, nur ein paar Tausend – Kapitalisten wurden sie genannt –, die reich und mächtig waren. Ihnen gehörte alles, was man nur besitzen konnte. Sie wohnten in großen prächtigen Häusern mit dreißig Dienstboten, fuhren in Automobilen und vierspännigen Wagen umher, tranken Champagner, trugen Zylinderhüte –«
Der alte Mann wurde auf einmal lebendig.
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