Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
Worten ausgedrückt klang es vernünftig; sah man aber die Menschen an, denen man auf der Straße begegnete, dann wurde es zu einer Frage des Glaubens. Die Straße, in die er eingebogen war, führte den Hügel hinunter. Es kam ihm vor, als sei er schon einmal in dieser Gegend gewesen und als müsse nicht weit entfernt eine Hauptverkehrsader vorbeigehen. Aus dem Ungewissen vor ihm drang der Lärm lauter Stimmen. Die Straße machte eine Biegung und lief dann in einigen Stufen aus, die zu einer engen Gasse hinunterführten, in der auf ein paar Verkaufsständen welkes Gemüse feilgeboten wurde. In diesem Augenblick erinnerte sich Winston, wo er war. Die Gasse mündete in eine Hauptstraße, und nach der nächsten Biegung, keine fünf Minuten entfernt, kam der Altwarenladen, in dem er das Buch mit den unbeschriebenen Seiten gekauft hatte, das nun sein Tagebuch war. Und in einem kleinen Papierwarengeschäft nicht weit von hier hatte er seinen Federhalter und die Flasche Tinte erstanden.
    Er blieb einen Augenblick am oberen Ende der Stufen stehen. Auf der anderen Seite der Gasse war eine schäbige kleine Kneipe, deren Fenster wie vereist aussahen, während sie in Wirklichkeit nur dick mit Staub überkrustet waren. Ein uralter Mann, vornüber gebeugt, aber noch rüstig, mit einem weißen Schnurrbart, der sich wie die Rückenflosse eines Stichlings sträubte, stieß die Schwingtür auf und ging hinein. Während Winston beobachtend dastand, ging ihm durch den Sinn, daß der alte Mann, der wenigstens achtzig Jahre alt sein mußte, bei Ausbruch der Revolution schon in den besten Mannesjahren gestanden hatte. Er und ein paar Leute seiner Generation waren die letzten noch lebenden Bindeglieder zu der verschwundenen Welt des Kapitalismus. In der Partei waren nicht mehr viele Menschen übrig, deren Weltanschauung vor der Revolution geformt worden war. Die ältere Generation war meistenteils bei den großen Säuberungsaktionen der 1950er und 60er Jahre beseitigt worden, und die paar Überlebenden waren längst zu völliger geistiger Unterwerfung terrorisiert worden. Wenn es noch einen lebendigen Menschen gab, der imstande war, einem einen wahrheitsgetreuen Bericht von den Verhältnissen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu geben, so konnte das nur ein Proles sein. Plötzlich fiel Winston wieder die Stelle ein, die er aus dem Geschichtsbuch in sein Tagebuch übertragen hatte, und ein toller Impuls ergriff von ihm Besitz. Er würde in die Kneipe gehen, mit dem alten Mann Bekanntschaft schließen und ihn ausfragen. Er würde zu ihm sagen: »Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, aus Ihrer Kindheit. Wie sah es damals aus? War alles besser als heute – oder war es vielleicht schlechter?«
    Rasch, um erst gar keine Angst aufkommen zu lassen, stieg er die Stufen hinunter und überquerte die schmale Gasse. Es war natürlich einfach Wahnsinn. Wie gewöhnlich, gab es kein ausdrückliches Verbot, mit den Proles zu sprechen und ihre Kneipen aufzusuchen, aber es war ein viel zu ungewöhnliches Verhalten, um unbemerkt zu bleiben. Wenn eine Streife erschien, konnte er vielleicht einen Anfall von Unwohlsein vorschützen, aber es war nicht wahrscheinlich, daß man ihm glauben würde. Er stieß die Tür auf, und ein fürchterlicher, käsiger Geruch nach saurem Bier schlug ihm entgegen. Bei seinem Eintritt sank das Stimmengewirr auf etwa eine halbe Lautstärke herab. Hinter seinem Rücken konnte er fühlen, wie jedermann seinen blauen Trainingsanzug anstarrte. Eine Partie Pfeilwerfen, die am anderen Ende des Lokals im Gange war, kam gute dreißig Sekunden zum Stillstand. Der alte Mann, dem er nachgegangen war, stand an der Theke und war in einen Wortwechsel mit dem Wirt verwickelt, einem stämmigen, hakennasigen jungen Mann mit ungeheuren Unterarmen. Eine Gruppe von Leuten, die mit ihren Gläsern in der Hand dastanden, beobachtete die Szene.
    »Ich hab' Sie höflich genug gebeten, oder vielleicht nicht?« sagte der alte Mann, wobei er kampflustig seine Schultern reckte. »Und Sie wollen mir weismachen, Sie hätten keine Pinte in der ganzen elenden Bude?«
    »Wieviel, zum Teufel, ist überhaupt eine Pinte?« sagte der Wirt, indem er sich, auf die Fingerspitzen gestützt, weit über die Theke beugte.
    »Hört euch das an! So was schimpft sich Wirt und weiß nicht einmal, was eine Pinte ist! Eine Pinte ist die Hälfte von einem Viertel, und vier Viertel sind eine Gallone. Nächstens muß ich Ihnen noch das Abc beibringen.«
    »Noch nie davon gehört«,

Weitere Kostenlose Bücher