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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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nichts als ein Kehrichthaufen von Einzelheiten. Man hätte ihn den ganzen Tag ausfragen können, ohne eine einzige vernünftige Auskunft zu bekommen. Die Geschichtsdarstellungen der Partei konnten zur Hälfte wahr sein; ja, sie konnten sogar vollkommen wahr sein. Er machte einen letzten Versuch.
    »Vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt«, meinte er. »Was ich sagen wollte, ist folgendes: Sie sind schon lange auf dieser Welt. Sie haben die Hälfte Ihres Lebens vor der Revolution gelebt. Im Jahre 1925 zum Beispiel waren Sie schon erwachsen. Würden Sie nach dem, woran Sie sich noch erinnern können, sagen, daß das Leben 1925 besser oder schlechter war als heute? Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber damals als heute leben wollen?«
    Der alte Mann blickte nachdenklich auf die Zielscheibe des Wurfspiels. Bedächtiger als zuvor trank er sein Bier aus. Dann sprach er mit einem duldsamen, philosophischen Ausdruck im Gesicht, als habe ihn das Bier milde gestimmt.
    »Ich weiß, was Sie von mir erwarten. Sie wollen hören, daß ich lieber wieder jung wäre. Die meisten Menschen würden antworten, wenn man sie fragt, sie wären lieber wieder jung. Man ist bei Kräften und Gesundheit, wenn man jung ist. Wenn man in mein Alter kommt, ist man nie mehr so ganz in Form. Ich habe manchmal bös an meinen kranken Füßen zu leiden, und meine Blase macht mir furchtbar zu schaffen.
    Sechs- oder siebenmal in der Nacht muß ich raus. Andererseits sind da wieder große Vorteile, wenn man ein alter Mann ist. Man hat nicht mehr dieselben Sorgen. Kein Ärger mit den Weibern, das ist schon sehr viel wert. Ich war fast dreißig Jahre mit keiner Frau mehr zusammen, ob Sie's glauben oder nicht. Hatte kein Verlangen danach, das ist das Beste daran.«
    Winston lehnte sich gegen den Fenstersims zurück. Es hatte keinen Zweck, weiterzumachen. Er wollte gerade noch einmal Bier bestellen, als der alte Mann plötzlich aufstand und hastig in das stinkende Pissoir in der Ecke des Lokals schlurfte. Der zusätzliche halbe Liter machte sich bemerkbar. Winston saß noch ein paar Minuten da und starrte in sein leeres Glas. Kaum wurde er sich bewußt, daß ihn seine Füße wieder hinaus auf die Straße trugen. In höchstens zwanzig Jahren, überlegte er, würde die große und einfache Frage:
    »War das Leben vor der Revolution besser als heute?« ein für allemal unbeantwortet bleiben müssen. Im Grunde war sie bereits heute nicht mehr zu beantworten, da die paar verstreuten Überlebenden der alten Welt nicht imstande waren, das eine Zeitalter mit dem anderen zu vergleichen. Sie erinnerten sich wohl einer Unzahl bedeutungsloser Dinge, an den Streit mit einem Arbeitskollegen, die Suche nach einer verlorenen Fahrradpumpe, den Ausdruck auf dem Gesicht einer längst verstorbenen Schwester, die Staubwirbel an einem windigen Morgen vor siebzig Jahren: aber alle wirklich aufschlußreichen Tatsachen waren ihrem Gesichtskreis entschwunden. Sie waren wie die Ameisen, die wohl kleine, aber keine großen Gegenstände erkennen können. Und wenn es keine Erinnerung mehr gab und alle schriftlichen Berichte gefälscht waren – wenn es soweit war, dann mußte die Behauptung der Partei, die Lebensbedingungen der Menschen verbessert zu haben, als wahr hingenommen werden, weil es keinen Maßstab mehr gab, den man hätte anlegen können, und nie mehr einen geben würde.
    In diesem Augenblick kam sein Gedankengang plötzlich zum Stillstand. Er blieb stehen und blickte hoch.
    Er befand sich in einer engen Gasse mit ein paar unbeleuchteten Läden, die zwischen Wohnhäusern verstreut lagen. Unmittelbar über seinem Kopf hingen drei verfärbte Metallkugeln, die aussahen, als wären sie einmal vergoldet gewesen. Es kam ihm so vor, als kenne er die Stelle. Natürlich! Er stand vor dem Altwarenladen, in dem er das Tagebuch gekauft hatte.
    Ein jähes Erschrecken durchzuckte ihn. Es war schon hinreichend gewagt gewesen, das Buch überhaupt zu kaufen, und er hatte sich geschworen, nie wieder in die Nähe des Ladens zu gehen. Und doch hatten ihn in dem Augenblick, als er seinen Gedanken zu schweifen erlaubt hatte, seine Füße ganz von selbst wieder hierher getragen. Gerade gegen solche selbstmörderischen Impulse hoffte er sich zu wappnen, indem er das Tagebuch begann.
    Gleichzeitig bemerkte er, daß der Laden, obwohl es fast einundzwanzig Uhr war, noch immer offengehalten wurde. In dem Gefühl, drinnen weniger aufzufallen, als wenn er auf dem Gehsteig blieb, trat er

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