1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
durch die Tür ein. Falls gefragt wurde, konnte er glaubhaft versichern, daß er sich nach Rasierklingen erkundigt habe.
Der Ladenbesitzer hatte gerade eine Petroleumlampe angezündet, die einen unsauberen, aber anheimelnden Geruch verbreitete. Er war ein etwa sechzigjähriger Mann, gebrechlich und vornüber gebeugt, mit einer langen, gutmütigen Nase und milden Augen, die von den dicken Brillengläsern ganz verzerrt wurden. Sein Haar war fast weiß, aber seine Augenbrauen waren buschig und noch dunkel. Seine Brille, seine zarten, umständlichen Bewegungen und seine altmodische schwarze Samtjacke verliehen seiner Erscheinung einen intellektuellen Anstrich, als sei er ein Literat oder vielleicht ein Musiker.
»Ich erkannte Sie schon auf der Straße«, sagte er sofort. »Sie sind der Herr, der das Poesiealbum gekauft hat. Das war ein herrliches Papier, wirklich herrlich. Sogenanntes Crèmepapier, so sagte man früher. So ein Papier wird nicht mehr hergestellt seit – oh, ich möchte sagen, seit fünfzig Jahren.« Er sah Winston über seine Brillengläser hinweg an. »Kann ich Ihnen mit etwas Bestimmtem dienen? Oder wollten Sie sich nur eben mal umsehen?«
»Ich kam gerade vorbei«, sagte Winston zögernd. »Wollte nur eben mal hereinschauen. Ich suche nichts Bestimmtes.«
»Um so besser«, sagte der andere, »denn ich glaube, ich hätte Sie nicht zufrieden stellen können.« Er machte eine entschuldigende Bewegung mit seiner weichen Hand. »Sie sehen ja selbst: der Laden ist leer, möchte man sagen. Unter uns gesagt, der Antiquitätenhandel ist so gut wie erledigt. Keine Nachfrage mehr, und auch kein Angebot. Möbel, Porzellan, Glas – alles geht langsam in die Brüche. Und die Metallgegenstände sind natürlich größtenteils eingeschmolzen worden. Ich habe seit Jahren keinen Messingleuchter mehr gesehen.«
Das enge Ladeninnere war in Wirklichkeit ungemütlich vollgekramt, aber es gab fast keinen Gegenstand von dem geringsten Wert darin. Der freie Raum auf dem Fußboden war sehr beschränkt, da rings an den Wänden entlang zahllose verstaubte Bilderrahmen aufgeschichtet waren. Im Schaufenster standen Tragbrettchen voll Schrauben und Nägeln, abgenutzten Meißeln, Federmessern mit abgebrochenen Klingen, verrosteten Uhren, die wohl niemals wieder gehen würden, und dem verschiedenartigsten Schund.
Nur auf einem Tischchen in einer Ecke lag allerlei netter Krimskrams – lackierte Schnupftabakdosen, Achatbroschen und dergleichen –, Dinge, die so aussahen, als könnte sich etwas Interessantes darunter befinden. Als Winston zu dem Tischchen hinüberschlenderte, fiel sein Blick auf einen runden, glatten Gegenstand, der sanft im Lampenlicht schimmerte, und er nahm ihn in die Hand.
Es war ein schweres Stück Glas, auf der einen Seite abgerundet, auf der ändern flach, also fast eine Halbkugel. Ein besonders weicher Ton, als wäre es aus Regenwasser, haftete sowohl der Farbe wie der Beschaffenheit des Glases an. In seinem Innern war, durch die runde Oberfläche vergrößert, ein seltsames, rosafarbenes Gebilde zu sehen, das an eine Rose oder Seeanemone erinnerte.
»Was ist das?« fragte Winston entzückt.
»Eine Koralle«, sagte der alte Mann. »Sie muß aus dem Indischen Ozean stammen. Man pflegte sie gleichsam ins Glas einzubetten. Das wurde vor über hundert Jahren so gemacht. Vielleicht sogar schon vor längerer Zeit, nach ihrem Aussehen zu schließen.«
»Es ist ein sehr schöner Gegenstand«, meinte Winston.
»Etwas sehr Schönes«, sagte der andere anerkennend. »Heutzutage gibt es nicht viele Dinge, von denen man das sagen könnte.« Er hustete. »Nun, sollten Sie es zufällig kaufen wollen, so überlasse ich es Ihnen für vier Dollar. Ich kann mich einer Zeit erinnern, wo ein solches Stück acht Pfund gebracht hätte, und damals waren acht Pfund – nun ich kann es nicht umrechnen, jedenfalls eine Menge Geld. Aber wer hat heutzutage noch etwas übrig für echte Antiquitäten – für die wenigen, die es noch gibt?«
Winston bezahlte sofort die vier Dollar und steckte den begehrten Gegenstand in seine Tasche. Was ihn daran fesselte, war nicht so sehr seine Schönheit, sondern ein gewisses Etwas, das ihm anhaftete und darauf hinzudeuten schien, daß er einem anderen, grundverschiedenen Zeitalter angehörte. Das weiche, regenwasserartige Glas war nicht wie ein gewöhnliches Glas, und er hatte so etwas noch nie gesehen. Der Gegenstand war durch seine offenbare Nutzlosigkeit doppelt anziehend, obwohl er
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