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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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guter Letzt war sie einverstanden, den Versuch aufzugeben. Und bald darauf gingen sie auseinander.
    Winston seufzte hörbar. Wieder ergriff er seinen Federhalter, und dann schrieb er weiter in das Tagebuch: Sie warf sich aufs Bett, und sofort, ohne jede Vorbereitung, raffte sie in der gemeinsten, abscheulichsten Weise, die man sich vorstellen kann, ihren Rock hoch. Ich . . .
    Er sah sich wieder in dem trüben Lampenlicht stehen und spürte in seiner Nase den Geruch nach Wanzen und billigem Parfüm. In seinem Herzen stieg ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und Reue auf, das in diesem Augenblick sogar mit dem Gedanken an den weißen Leib Katherines verschwamm, den die hypnotische Macht der Partei für immer hatte zu Eis erstarren lassen. Warum mußte es immer so sein?
    Warum konnte er nicht eine Frau für sich haben, statt dieser schmutzigen Schlampen, in Abständen von Jahren? Aber ein wirkliches Liebeserlebnis war ein nahezu unvorstellbares Ereignis. Die Frauen aus der Partei waren sich alle gleich. Die Enthaltsamkeit war ihnen ebenso tief eingeimpft wie die Treue zur Partei.
    Durch sorgfältige frühzeitige Lenkung, durch Sport und Kaltwasser, durch den ganzen Unsinn, der ihnen in der Schule, bei den Spähern und in der Jugendliga eingetrichtert wurde, durch Vorträge, Paraden, Lieder, Parteischlagworte und Militärmusik war ihnen jedes natürliche Gefühl ausgetrieben worden. Wenn sein Verstand ihm auch sagte, daß es Ausnahmen geben müsse, glaubte sein Herz doch nicht daran. Diese Frauen waren alle, genau wie die Partei es haben wollte, nicht zu erschüttern. Er aber wünschte sich, sogar noch sehnlicher, als geliebt zu werden, diese Tugendmauer niederzureißen, und wäre es auch nur ein einziges Mal in seinem Leben. Der Akt der geschlechtlichen Verschmelzung, wenn er glückhaft vollzogen wurde, war ein Akt der Auflehnung. Die Begierde war ein Gedankenverbrechen. Sogar Katherine geweckt zu haben – wenn ihm das je gelungen wäre –, hätte als Verführung gegolten, obwohl sie seine Frau war.
    Aber der Schluß der Geschichte mußte zu Papier gebracht werden. Er schrieb:
    Ich schraubte die Lampe hoch. Als ich sie bei Licht sah . . .
    Nach der Dunkelheit war ihm das schwache Licht der Paraffinlampe sehr hell erschienen. Zum erstenmal konnte er die Frau richtig sehen. Er hatte einen Schritt auf sie zu gemacht und war dann, erfüllt von Begierde und Angst, stehen geblieben. Er war sich qualvoll der Gefahr bewußt, die er damit auf sich genommen hatte, daß er hier hereingekommen war. Es war sehr wohl möglich, daß ihn eine Streife beim Herauskommen abfing: vielleicht warteten sie in diesem Augenblick schon draußen vor der Tür. Wenn er nun fortging, ohne zu tun, weswegen er gekommen war. Es war sehr wohl möglich, daß ihn eine Streife beim Herauskommen abfing: vielleicht warteten sie in diesem Augenblick schon draußen vor der Tür. Wenn er nun fortging, ohne es zu tun – –!
    31
    George Orwell – 1984
    Es mußte niedergeschrieben, mußte gebeichtet werden. In der vollen Flut des Lampenlichts hatte er plötzlich erkannt: die Frau war uralt. Die Schminke in ihrem Gesicht war so dick aufgetragen, daß es aussah, als könnte sie Sprünge bekommen, wie eine Maske aus Pappe. In ihrem Haar waren weiße Strähnen. Aber die grausigste Einzelheit war, daß ihr halbgeöffneter Mund nichts enthüllte als eine schwarze Höhle. Sie hatte überhaupt keine Zähne.
    Hastig schrieb er mit kritzeligen Zügen:
    Bei Licht gesehen, war sie eine ganz alte Frau, wenigstens fünfzig Jahre alt. Aber ich ließ mich nicht abschrecken und tat es trotzdem.
    Wieder preßte er die Finger gegen seine Augenlider. Endlich hatte er es hingeschrieben. Aber es half nichts, die Therapie hatte nicht gewirkt. Sein Verlangen, mit lauter Stimme unflätige Worte hinauszuschreien, war genauso heftig wie je zuvor.
    Siebentes Kapitel
    Wenn es noch eine Hoffnung gibt, schrieb Winston, so liegt sie bei den Proles.
    Wenn es eine Hoffnung gab, so mußte sie einfach bei den Proles liegen, denn nur dort, in diesen unbeachtet durcheinanderwimmelnden Massen, die 85 Prozent der Bevölkerung Ozeaniens ausmachten, konnte jemals die Kraft entstehen, die Partei zu zerschlagen. Von innen her konnte die Partei nicht gestürzt werden. Ihren Feinden – wenn sie überhaupt Feinde hatte – bot sich keine Möglichkeit, zusammenzukommen oder auch nur einander zu erkennen. Sogar wenn die legendäre »Brüderschaft«
    wirklich existierte, was immerhin möglich war, blieb es

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