1984
doch unvorstellbar, daß ihre Mitglieder sich jemals in größerer Anzahl als zu zweien oder dreien versammeln könnten. Ein Blick in die Augen, eine Modulation der Stimme bedeutete schon Rebellion; das Äußerste war ein geflüstertes Wort. Aber die Proles, wenn sie sich nur ihrer Macht bewußt werden könnten, hätten es gar nicht nötig, eine Verschwörung anzuzetteln. Sie brauchten nur aufzustehen und sich zu schütteln, wie ein Pferd, das die Fliegen abschüttelt. Wenn sie wollten, konnten sie die Partei morgen in Stücke schlagen. Sicherlich mußte ihnen früher oder später der Gedanke dazu kommen! Und doch –!
Er erinnerte sich, wie er einmal eine volkreiche Straße hinuntergegangen war, als sich ein mächtiges Geschrei von Hunderten von Stimmen – Frauenstimmen – in einer dicht vor ihm gelegenen Seitenstraße erhob. Es war ein großer, furchtbarer Aufschrei des Zorns und der Verzweiflung, ein tiefes, lautes »O-o-o-o-oh!«, das wie eine Glocke weiterdröhnte. Sein Herz hatte ausgesetzt. Es ist soweit! hatte er gedacht. Eine Volkserhebung! Die Proles wachen endlich auf! Als er die Stelle erreicht hatte, sah er einen Pöbelhaufen von zwei- oder dreihundert Weibern sich mit tragischen Mienen, als seien sie die dem Untergang geweihten Passagiere eines sinkenden Schiffes, um die Verkaufsstände eines Straßenmarktes drängen. Aber im gleichen Augenblick löste sich die allgemeine Verzweiflung in eine Menge einzelner Zänkereien auf. Es stellte sich heraus, daß an einem der Stände Blechpfannen verkauft worden waren. Armselige, schäbige Dinger – aber Kochgeschirr jeglicher Art war immer schwierig zu bekommen. Nun war der Vorrat unerwarteterweise schon erschöpft. Die Frauen, denen es geglückt war, ein Stück zu ergattern, versuchten sich mit ihren Blechpfannen, von den übrigen gestoßen und gedrängt, davonzumachen, während Dutzende von anderen vor dem Verkaufsstand lärmten, die Verkäuferin der Bevorzugung beschuldigten und behaupteten, sie habe irgendwo noch mehr Blechpfannen in der Reserve. Ein erneutes Geschrei brach aus.
Zwei aufgedunsene Frauenspersonen, von denen der einen die Frisur aufging, hielten dieselbe Blechpfanne fest und versuchten, sie einander aus der Hand zu reißen. Einen Augenblick zerrten beide daran, dann brach der Stiel ab. Winston beobachtete sie angeekelt. Und doch, welche fast erschreckende Macht hatte für einen kurzen Augenblick aus diesem Schrei aus ein paar hundert Kehlen geklungen! Warum konnten sie niemals über etwas Wichtiges so aufschreien? Er schrieb:
Sie werden sich nie auflehnen, solange sie sich nicht ihrer Macht bewußt sind, und erst nachdem sie sich aufgelehnt haben, können sie sich ihrer Macht bewußt werden.
Das hätte beinahe einem der Parteilehrbücher entnommen sein können, überlegte er. Die Partei erhob natürlich Anspruch darauf, die Proles aus der Knechtschaft befreit zu haben. Vor der Revolution waren sie von den Kapitalisten schmählich unterdrückt worden, man hatte sie hungern lassen und ausgepeitscht, Frauen mußten in den Kohlenbergwerken arbeiten (Frauen arbeiteten übrigens in Wirklichkeit noch immer 32
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in den Kohlenbergwerken), Kinder waren im Alter von sechs Jahren an die Fabriken verkauft worden. Aber gleichzeitig lehrte die Partei, getreu den Grundsätzen des Zwiedenkens , die Proles seien von Natur aus minderwertige Geschöpfe, die durch die Anwendung von einigen wenigen einfachen Verordnungen wie die Tiere im Zaum gehalten werden mußten. In Wahrheit wußte man sehr wenig über die Proles. Man brauchte nicht viel zu wissen. Solange sie nur arbeiteten und sich fortpflanzten, waren ihre übrigen Lebensäußerungen unwichtig. Sich selbst überlassen wie das Vieh, das man auf die Weiden Argentiniens hinaustreibt, waren sie zu einem ihnen offenbar natürlichen Lebensstil, einer Art alter Überlieferung, zurückgekehrt. Sie wurden geboren, wuchsen in der Gosse auf, gingen mit zwölf Jahren an die Arbeit, durchlebten eine kurze Blütezeit körperlicher Schönheit und sinnlicher Begierde, heirateten mit zwanzig, alterten mit dreißig und starben zum größten Teil mit sechzig Jahren. Schwere körperliche Arbeit, die Sorge um Heim und Kinder, kleinliche Streitigkeiten mit Nachbarn, Kino, Fußball, Bier und vor allem Glücksspiele füllten den Rahmen ihres Denkens aus. Es war nicht schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Nur ein paar Agenten der Gedankenpolizei bewegten sich ständig unter ihnen, um falsche Gerüchte
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