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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Durchschnittsmenschen heute besser ging als vor der Revolution. Der einzige Gegenbeweis war der stumme Protest im eigenen Innern, das instinktive Gefühl, daß die Bedingungen, unter denen man lebte, unerträglich waren und früher anders gewesen sein mußten. Es fiel ihm auf, daß das wirklich Charakteristische des heutigen Lebens nicht seine Grausamkeit und Unsicherheit, sondern einfach seine Nacktheit, seine Schäbigkeit, seine Ruhelosigkeit war. Das Leben hatte, wenn man um sich blickte, nicht nur keinerlei Ähnlichkeit mit den Lügen, die aus dem Televisor strömten, sondern entsprach nicht einmal den Idealen, wie sie die Partei aufstellte. Ein großer Teil des Lebens spielte sich, selbst für ein Parteimitglied, auf einer neutralen und unpolitischen Ebene ab und bestand darin, sich mit langweiliger Arbeit abzuplagen, sich einen Platz in der Untergrundbahn zu erobern, eine zerrissene Socke zu stopfen, eine Sacharintablette zu erbetteln, einen Zigarettenstummel aufzubewahren. Das von der Partei angestrebte Ideal war etwas Großes, Schreckliches, Gleißendes – eine Welt aus Stahl und Beton, eine Welt von riesigen Maschinen und furchtbaren Waffen – mit einem Volk von Kriegern und Fanatikern, das völlig geschlossen voranmarschierte, alle mit den gleichen Gedanken und den gleichen Schlachtrufen, wo alle pausenlos arbeiteten, kämpften, siegten, verfolgten – dreihundert Millionen Menschen, alle mit den gleichen Gesichtern. Die Wirklichkeit aber waren zerfallende, heruntergekommene Städte, durch deren Straßen unterernährte Menschen in durchlöcherten Schuhen schlichen und in deren notdürftig ausgebesserten Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert wohnten, wo es immer nach Kohl und schadhaften Aborten roch. Ihm war, als sähe er eine Vision von London als einer riesigen Trümmerstadt, einer Stadt von Millionen Kehrichthaufen, und dahinter ein Bild von Frau Parsons, einer Frau mit durchfurchtem Gesicht und verwuschelten Haaren, die hilflos an einem verstopften Ausguß herumhantierte.
    Er bückte sich und kratzte wieder an seinem Knöchel. Tag und Nacht knatterte einem der Televisor die Ohren voll mit Statistiken, aus denen hervorging, daß die Menschen heutzutage mehr zu essen, mehr anzuziehen, bessere Wohnungen und eine bessere Freizeitgestaltung hatten – daß sie länger lebten und ihre Arbeitszeit kürzer war, daß sie größer, gesünder, kräftiger, glücklicher, klüger, gebildeter waren als die Menschen vor fünfzig Jahren. Kein Wort davon konnte je belegt oder widerlegt werden. Die Partei behauptete zum Beispiel, gegenwärtig könnten 40 Prozent der erwachsenen Proles lesen und schreiben: vor der Revolution, hieß es, habe die Zahl nur 15 Prozent betragen. Die Partei behauptete, die Kindersterblichkeit belaufe sich jetzt nur noch auf einhundertundsechzig pro Tausend, wählend sie vor der Revolution dreihundert betragen habe – und so ging es weiter. Es war ein ewiges Jonglieren mit zwei Unbekannten. Es konnte sehr gut möglich sein, daß buchstäblich jedes Wort in den Geschichtsbüchern, sogar das, was man unbedenklich hinnahm, frei erfunden war. Es brauchte ein Gesetz wie das jus primae noctis oder ein Wesen wie den Kapitalisten oder eine Kopfbedeckung wie den Zylinderhut nie gegeben zu haben.
    Alles löste sich in Nebel auf. Die Vergangenheit war ausradiert, und dann war sogar die Tatsache des Radierens vergessen, die Lüge war zur Wahrheit geworden. Nur einmal in seinem Leben hatte er – post factum , darauf kam es an – den greifbaren, unverkennbaren Beweis einer Fälschung gehabt. Er hatte ihn ganze dreißig Sekunden in seinen Händen gehalten. Es mußte im Jahre 1973 gewesen sein – jedenfalls war es um die Zeit herum, als er und Katherine sich getrennt hatten. Aber das Datum, worauf es dabei ankam, lag noch sieben oder acht Jahre weiter zurück.
    Die Geschichte begann eigentlich um die Mitte der sechziger Jahre, der Zeit der großen Säuberungsaktionen, in der die ursprünglichen Führer der Revolution ein für allemal beseitigt worden waren. Um das Jahr 1970 war keiner von ihnen mehr übrig, außer dem Großen Bruder selbst. Alle anderen waren inzwischen als Verräter und Konterrevolutionäre überführt worden. Goldstein war geflohen und hielt sich irgendwo verborgen, und von den anderen waren ein paar einfach verschwunden, während die Mehrzahl nach aufsehenerregenden Schauprozessen hingerichtet worden war, bei denen sie Geständnisse ihrer Verbrechen ablegten. Unter den letzten

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