1984
Überlebenden waren drei Männer namens Jones, Aaronson und Rutherford. Um das Jahr 1965 herum mußten auch diese drei verhaftet worden sein. Wie es häufig vorkam, blieben sie ein Jahr oder länger verschwunden, so daß man nicht wußte, ob sie überhaupt noch lebten, und waren dann plötzlich wieder aus der Versenkung hervorgeholt worden, um sich in der üblichen Weise selbst anzuschuldigen. Sie hatten sich des Einverständnisses mit dem Feind schuldig bekannt (auch damals war Eurasien der Feind), der Unterschlagung öffentlicher Gelder, des Mordes an verschiedenen alten Parteimitgliedern, einer Verschwörung gegen die Führerschaft des Großen Bruders, die lange vor Ausbruch der Revolution begonnen hatte, und endlich an Sabotagehandlungen, die den Tod von Hunderttausenden von Menschen herbeigeführt hatten. Nachdem sie sich dieser Dinge angeklagt hatten, waren sie begnadigt, wieder in die Partei aufgenommen und mit bedeutsam klingenden Posten betraut worden, die in Wahrheit 34
George Orwell – 1984
nur Sinekuren waren. Alle drei hatten umfangreiche kriecherische Erklärungen in der Times veröffentlicht, in denen sie die Gründe für ihren Treuebruch im einzelnen auseinander setzten und sich zu bessern versprachen.
Einige Zeit nach ihrer Freilassung hatte Winston alle drei sogar im Café »Kastanienbaum« gesehen. Er entsann sich des gebannten Entsetzens, mit dem er sie aus den Augenwinkeln beobachtet hatte. Sie waren weit älter als er, Überbleibsel aus einer vergangenen Welt, beinahe die letzten großen Gestalten aus der heroischen Anfangszeit der Partei. Der Zauber der Untergrundbewegung und des Bürgerkrieges umwob sie noch ein wenig. Er hatte das Gefühl – wenn damals auch schon Tatsachen und Daten zu verschwimmen begannen –, daß er ihre Namen Jahre vor dem des Großen Bruders gekannt hatte. Aber zugleich waren sie Geächtete, Feinde, Parias, die mit absoluter Sicherheit in ein oder zwei Jahren der Vernichtung anheim fielen. Kein Mensch, der einmal in die Hände der Gedankenpolizei gefallen war, kam schließlich heil davon.
Sie waren Leichen auf Urlaub.
Kein Mensch saß an einem der Tische in ihrer unmittelbaren Nähe. Es war nicht ratsam, auch nur in der Nachbarschaft solcher Leute gesehen zu werden. Sie saßen schweigend vor ihren Gläsern mit Gin, dem hier, als Spezialität des Cafés, ein Aroma von Gewürznelken beigesetzt war. Das Aussehen Rutherfords hatte von den dreien den tiefsten Eindruck auf Winston gemacht. Rutherford war früher ein berühmter Karikaturist gewesen, dessen schonungslose Zeichnungen vor und nach der Revolution dazu beigetragen hatten, die Volksmeinung aufzupeitschen. Selbst jetzt noch erschienen in großen Abständen seine Witzzeichnungen in der Times . Sie waren lediglich eine Imitation seiner früheren Technik und merkwürdig leblos und unüberzeugend. Es war ein ewiges Wiederkäuen der alten Themen: Elendswohnungen, verhungernde Kinder, Straßenschlachten, Kapitalisten mit Zylinderhüten – sogar auf den Barrikaden schienen die Kapitalisten noch an ihren Zylinderhüten festzuhalten, ein endloses, hoffnungsloses Bemühen, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Er war ein unförmig großer Mann mit einer fettigen grauen Mähne, einem pickeligen, gedunsenen Gesicht und dicken Negerlippen. Er mußte einmal riesig stark gewesen sein; jetzt war sein schwerer Körper gebeugt, zerbrochen, aufgeschwemmt und löste sich in seine Bestandteile auf. Er schien vor den Augen des Betrachters auseinander zufallen, wie ein ins Rutschen geratener Sandberg.
Es war die stille Stunde um fünfzehn Uhr. Winston konnte sich nicht mehr erinnern, wieso er gerade zu dieser Zeit in das Café gekommen war. Das Lokal war fast leer. Aus dem Televisor rieselte Blechmusik. Die drei Männer saßen fast regungslos in ihrer Ecke, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Unaufgefordert brachte der Kellner neue Gläser mit Gin. Neben ihnen auf dem Tisch stand ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren, aber die drei spielten nicht. Und dann ereignete sich, vielleicht im ganzen eine halbe Minute lang, etwas Merkwürdiges mit den Televisoren. Das eben gespielte Musikstück änderte sich, nicht allein in der Melodie, auch in der Klangfarbe. Es kam etwas hinein – aber es war schwer zu beschreiben, was es war. Ein seltsam gebrochener, schmetternder, höhnischer Klang: Winston nannte es bei sich einen gelben Klang.
Und dann sang eine Stimme aus dem Televisor das alte Liedchen:
Under the spreading chestnut
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