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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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allwöchentlich in der gleichen Nacht auszuführen. »Es war ihr greulich, aber nichts in der Welt hätte sie dazu bringen können, es bleiben zu lassen.
    Sie nannte es immer – aber das errätst du nie.«
    »Unsere Pflicht gegenüber der Partei«, sagte Julia prompt.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich war schließlich auch in der Schule, mein Lieber. Aufklärungsunterricht für junge Mädchen über sechzehn, einmal im Monat. In der Jugendbewegung desgleichen. Sie trichtern einem das Jahre hindurch ein. Und ich kann wohl behaupten, daß sie in vielen Fällen Erfolg damit haben. Aber man weiß es natürlich nie; die Menschen sind so scheinheilig.«
    Und sie begann sich weiter über das Thema auszulassen. Bei Julia drehte sich alles um ihre eigene Sinnlichkeit. Sobald diese irgendwie im Spiel war, konnte sie außerordentlich scharfsinnig sein. Im Gegensatz zu Winston war ihr ein Licht über den eigentlichen Zweck der strengen Parteidoktrin in sexuellen Dingen aufgegangen. Sie wurde aufrechterhalten, nicht nur weil die Sexualität sich eine Welt für sich zu schaffen verstand, die außerhalb der Kontrolle der Partei lag, so daß sie nach Möglichkeit unterdrückt werden mußte, sondern vor allen Dingen, weil die sexuelle Enthaltsamkeit zur Hysterie führte und damit ein erstrebenswertes Ziel erreicht wurde, denn diese Hysterie konnte in Kriegsbegeisterung und Führerverehrung umgewandelt werden. Julia drückte das folgendermaßen aus:
    »Beim Liebesspiel verbraucht man Energie, und hinterher fühlt man sich glücklich und pfeift auf alles andere. Das können sie nicht ertragen. Sie wollen, daß man ständig zum Platzen mit Energie geladen ist.
    Dies ganze Auf- und Abmarschieren, Hurra-Brüllen und Fahnenschwenken ist weiter nichts als sauer gewordene Sinnlichkeit. Wenn man innerlich glücklich ist, kann man weder über den Großen Bruder noch den Drei-Jahres-Plan, die Zwei-Minuten-Haß-Sendung und den ganzen übrigen Schwindel in Begeisterung geraten!«
    Das war sehr richtig, dachte Winston. Es bestand ein unmittelbarer, enger Zusammenhang zwischen Enthaltsamkeit und politischer Strenggläubigkeit. Hätte man sonst Furcht, Haß und fanatischen Glauben, wie sie die Partei bei ihren Mitgliedern voraussetzte, in der richtigen Weißglut erhalten können, wenn man nicht einen mächtigen Urtrieb auf Flaschen zog, um ihn als Treibstoff zu benutzen? Der Sexualtrieb war für 60
    George Orwell – 1984
    die Partei gefährlich, und sie hatte gelernt, ihn in ihren Dienst zu spannen. Ähnlich war man mit dem Familiensinn verfahren. Die Familie konnte zwar nicht völlig abgeschafft werden, ja, man ermutigte die Leute sogar, in einer fast altmodischen Weise an ihren Kindern zu hängen. Die Kinder dagegen wurden systematisch gegen ihre Eltern aufgehetzt; man brachte ihnen bei, sie zu bespitzeln und jeden ihrer Verstöße gegen die Disziplin zu melden. Das Familienleben war in Wirklichkeit zu einer Erweiterung der Gedankenpolizei geworden, zu einem Mittel, um jedermann Tag und Nacht von intim vertrauten Angebern bespitzeln zu lassen.
    Er mußte wieder an Katherine denken. Sie hätte ihn fraglos bei der Gedankenpolizei denunziert, wenn sie nicht zu dumm gewesen wäre, um an seinen Ansichten etwas Unorthodoxes zu bemerken. Was sie ihm in diesem Augenblick ins Gedächtnis zurückrief, war die erstickende Schwüle des Nachmittags, die ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Er begann Julia zu erzählen, was sich vor elf Jahren an einem ähnlichen drückend heißen Sommertag ereignet hatte.
    Es hatte sich drei oder vier Monate nach ihrer Heirat zugetragen. Katherine und er hatten sich auf einer Gemeinschaftswanderung im Herzen von Kent verlaufen. Sie waren nur ein paar Minuten hinter den anderen zurückgeblieben, hatten dann aber eine falsche Richtung eingeschlagen und fanden sich plötzlich am Rand einer aufgelassenen Kalkgrube stehen. Der Boden stürzte jäh zu einer Tiefe von zehn oder zwanzig Meter ab; unten lagen große Felsentrümmer. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, den sie nach dem Weg hätten fragen können. Sobald Katherine merkte, daß sie den Weg verloren hatten, wurde sie sehr unruhig. Auch nur für einen Augenblick vom lärmenden Haufen der anderen Ausflügler getrennt zu sein, gab ihr das Gefühl, ein Unrecht zu begehen. Sie wollte auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurücklaufen und in der anderen Richtung ihr Glück versuchen. Aber in diesem Augenblick entdeckte Winston ein paar Stauden Pfennigkraut, die in

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