1984
den Vorsprüngen des Gesteins unter ihnen Wurzel geschlagen hatten. Eine von den Stauden war zweifarbig, sie trug offenbar violette und ziegelrote Blüten am selben Stamm. Er hatte noch nie vorher etwas Derartiges gesehen und rief Katherine herbei, um sich das anzusehen.
»Schau, Katherine. Schau mal diese Blumen. Diese Staude da, fast unten auf dem Grund. Sie hat zwei verschiedene Farben, siehst du es?«
Sie hatte sich bereits zum Gehen gewandt, kam aber ziemlich verdrießlich für einen Augenblick zurück.
Sie beugte sich sogar über den Rand der Grube, um zu sehen, worauf er deutete. Er stand ein wenig hinter ihr und hielt sie, um ihr Halt zu geben, am Gürtel fest. In diesem Augenblick kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, wie vollkommen allein sie waren. Nirgends eine Menschenseele, kein Blatt regte sich, nicht einmal ein Vogel war zu sehen. An einem solchen Ort war die Gefahr eines irgendwo verborgenen Mikrophons sehr gering, und selbst wenn es installiert wäre, würde es nur ein Geräusch verzeichnen. Es war um die heißeste, schläfrigste Nachmittagsstunde. Die Sonne brannte auf sie herunter, der Schweiß kitzelte sein Gesicht. Da war ihm der Gedanke gekommen . . .
»Warum hast du ihr nicht einen tüchtigen Stoß versetzt?« sagte Julia. »Ich hätte es getan.«
»Ja, Liebling, du schon. Ich hätte es auch getan, wenn ich derselbe Mensch gewesen wäre wie heute. Das heißt, vielleicht hätte ich es getan – ich bin mir nicht sicher.«
»Tut es dir leid, daß du es nicht getan hast?«
»Ja. Im Grunde bedaure ich es.«
Sie saßen Seite an Seite auf dem staubigen Fußboden. Er zog sie an sich. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, der angenehme Duft ihres Haares überstäubte den Geruch nach Taubenmist. Sie war sehr jung, dachte er, sie erwartete noch etwas vom Leben, sie begriff nicht, daß es nichts hilft, einen unbequemen Menschen in einen Abgrund zu stoßen.
»In Wirklichkeit hätte es nichts geändert«, sagte er.
»Warum bedauerst du dann, es nicht getan zu haben?«
»Nur weil mir das Handeln lieber geworden ist als das Herumsitzen mit Händen im Schoß. Doch bei dem Spiel, das wir spielen, können wir nicht gewinnen. Die eine Art von Fehlschlägen ist besser als die andere, das ist alles.«
Er fühlte ein Zucken des Widerspruchs in ihren Schultern. Sie widersprach ihm immer, wenn er etwas Derartiges sagte. Sie wollte es nicht als ein Naturgesetz hinnehmen, daß der einzelne immer unterliegt.
Einesteils war ihr bewußt, daß sie zum Untergang verurteilt war, daß früher oder später die Gedankenpolizei sie verhaften und töten würde, doch mit einem anderen Teil ihres Denkens hielt sie es irgendwie für möglich, 61
George Orwell – 1984
eine geheime Welt aufzubauen, in der man leben konnte, wie es einem gefiel. Dazu brauchte man nur Glück, Schlauheit und Dreistigkeit. Sie begriff nicht, daß es so etwas wie Glück nicht gab, daß der einzige Sieg in der fernen Zukunft lag, lange nachdem man gestorben war, daß man von dem Augenblick an, in dem man der Partei den Kampf ansagte, besser daran tat, sich als Leiche zu betrachten.
»Wir sind die Toten«, sagte er.
»Wir sind doch noch nicht tot«, meinte Julia nüchtern.
»Noch nicht körperlich. Aber in sechs Monaten, einem Jahr – möglicherweise fünf Jahren. Ich habe Angst vor dem Tod. Du bist noch jung, also fürchtest du ihn vermutlich noch mehr als ich. Begreiflicherweise werden wir ihn so lange wie möglich hinausschieben. Aber es ist nur ein sehr geringer Unterschied. Solange wir Menschen Menschen sind, bleiben sich Tod und Leben gleich.«
»Ach, Unsinn! Mit wem möchtest du lieber ins Bett gehen, mit mir oder einem Skelett? Bist du nicht froh, daß du lebst? Fühlst du nicht gerne: Das bin ich, das ist meine Hand, das ist mein Bein, ich bin wirklich, bin greifbar, ich lebe! Liebst du das nicht?«
Sie warf sich herum und preßte ihren Busen gegen ihn. Er konnte ihre reifen, festen Brüste durch ihren Trainingsanzug hindurch spüren. Ihr Körper schien etwas von seiner Jugendfrische und Lebenskraft an ihn abzugeben.
»Doch, das liebe ich«, sagte er.
»Dann hör auf, vom Sterben zu reden. Und jetzt paß auf, Liebster, wir müssen unser nächstes Wiedersehen vereinbaren. Wir können ebenso gut wieder zu der Stelle im Wald gehen. Wir haben lange genug pausiert. Aber diesmal mußt du auf einem anderen Weg hingehen. Ich habe mir alles ausgedacht. Du fährst mit dem Zug – aber schau her, ich werde es dir aufzeichnen.«
Und in ihrer
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