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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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sprach niemals in Nebenstraßen), als ein betäubender Krach ertönte, die Erde barst und der Himmel sich verfinsterte; Winston fand sich zerschunden und erschrocken auf dem Boden liegen. Eine Raketenbombe mußte in nächster Nähe niedergegangen sein. Plötzlich sah er nur wenige Zentimeter entfernt das Gesicht Julias, totenblaß, weiß wie Kalk. Sogar ihre Lippen waren vollkommen weiß. Sie war tot! Erst als er sie an sich preßte, entdeckte er, daß er ein lebenswarmes Gesicht küßte und nur eine puderartige, bröselige Staubschicht seinen Lippen im Weg war. Ihre Gesichter waren dicht mit Mörtel überzogen.
    An manchen Abenden kamen sie an ihren Treffpunkt und mußten ohne ein Zeichen hintereinander hergehen, weil gerade eine Streife um die Ecke gebogen kam oder ein Helikopter über ihnen schwebte. Aber auch wenn es weniger gefährlich gewesen wäre, bestanden noch genug Schwierigkeiten, die Zeit für ein Rendezvous zu erübrigen. Winstons Arbeitswoche hatte sechzig Stunden, und Julias war sogar noch länger; ihre freien Tage schwankten je nach der Dringlichkeit der Arbeit und deckten sich selten. Julia jedenfalls 58
    George Orwell – 1984
    hatte kaum einen Abend ganz für sich. Sie verwandte erstaunlich viel Zeit auf den Besuch von Vorträgen und die Teilnahme von Demonstrationen, teilte Flugschriften für die Jugendliga gegen Sexualität aus, nähte Fahnen für die Haß-Woche , sammelte für den Sparfeldzug und dergleichen mehr. So etwas machte sich bezahlt, meinte sie; es war die beste Tarnung. Wenn man die kleinen Gesetze einhielt, konnte man gegen die großen verstoßen. Sie veranlaßte Winston sogar, noch einen seiner freien Abende zu opfern, indem er sich als Helfer bei der Munitionsstückarbeit verpflichtete, die von den eifrigen Parteimitgliedern freiwillig verrichtet wurde.
    So verbrachte Winston an einem Abend jeder Woche vier fürchterlich langweilige Stunden mit dem Zusammenschrauben von Metallstückchen, die vermutlich Bestandteile von Bombenzündern waren – in einer zugigen, schlecht beleuchteten Werkstatt, wo das Hämmern sich trostlos mit der Musik aus den Televisoren vermischte.
    Als sie sich in dem Glockenstuhl des Kirchturms trafen, ergänzten sie die Lücken ihrer bruchstückweisen Unterhaltungen. Es war ein glühendheißer Nachmittag. Die Luft in dem kleinen, viereckigen Raum über den Glocken war drückend und erstickend und roch durchdringend nach Taubenmist. Sie saßen stundenlang auf dem staubigen, mit schmutzigem Reisig bedeckten Fußboden und plauderten; von Zeit zu Zeit stand einer von ihnen auf und warf einen Blick durch die Schießscharten, um sich zu überzeugen, daß niemand kam.
    Julia war sechsundzwanzig Jahre alt. Sie wohnte in einem Heim mit dreißig anderen jungen Mädchen zusammen. (»Immer in dem Weibergestank! Wie ich die Frauen hasse!«) Und sie war, wie er vermutet hatte, an den Romanschreibemaschinen in der Literaturabteilung beschäftigt. Sie liebte ihre Arbeit, die in der Hauptsache in der Handhabung und Bedienung eines starken, aber sehr komplizierten Elektromotors bestand. Sie war nicht besonders intelligent, aber manuell geschickt und gut mit dem Maschinellen vertraut.
    Sie konnte den ganzen Arbeitsgang der Zusammenstellung eines Romans beschreiben, angefangen von den durch das Planungskomitee herausgegebenen Richtlinien bis zu den letzten, von der Umschreibe-Gruppe aufgesetzten Glanzlichtern. Aber sie hatte kein Interesse an dem Endprodukt. »Ich mache mir nicht viel aus Büchern«, sagte sie. Sie waren ein Artikel, der hergestellt werden mußte, wie Marmelade oder Schuhbänder.
    Sie hatte keinerlei Erinnerung an die Zeit vor den sechziger Jahren; der einzige Mensch in ihrem Umkreis, der häufig von der Zeit vor der Revolution gesprochen hatte, war ein Großvater, der verschwunden war, als sie acht Jahre alt wurde. In der Schule war sie Anführerin der Hockey-Mannschaft gewesen und hatte zwei Jahre hintereinander den Leichtathletikpreis gewonnen. Sie war Truppführerin bei den Spähern und Hilfssekretärin bei der Kinderliga gewesen, bevor sie in die Jugendliga gegen Sexualität eintrat. Ihr Führungszeugnis war immer vorzüglich gewesen. Sie war sogar dazu ausersehen worden – und das war ein untrügliches Zeugnis für eine gute Führung –, in der Unterabteilung der Literatur-Abteilung zu arbeiten, die billige pornographische Erzeugnisse zum Verkauf bei den Proles herstellte. Dort war sie ein Jahr geblieben und hatte in Zellophan gewickelte Broschüren mit

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