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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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nicht mehr. Keine Gefühlsregung war ungebrochen, denn alles war mit Angst und Haß durchsetzt. Ihre Umarmung war ein Kampf gewesen, der Höhepunkt ein Sieg. Es war ein gegen die Partei geführter Schlag. Ein politischer Akt.
    57
    George Orwell – 1984
    Drittes Kapitel
    »Wir können noch einmal hierher kommen«, meinte Julia. »Im allgemeinen darf man es riskieren, ein Versteck zweimal zu benutzen. Aber natürlich nicht in den nächsten ein oder zwei Monaten.«
    Sobald sie aufgewacht war, hatte sich ihr Benehmen geändert. Sie wurde flink und sachlich, zog ihre Kleider an, schlang sich die scharlachrote Schärpe um die Hüften und begann die Einzelheiten für die Rückfahrt zu besprechen. Ihr das zu überlassen, erschien einem ganz natürlich. Sie besaß offenbar eine praktische Geschicklichkeit, die Winston fehlte, und anscheinend auch eine umfassende Kenntnis der ländlichen Umgebung Londons, die sie auf zahllosen Gemeinschaftswanderungen gesammelt hatte. Der Weg, den sie ihm für die Rückkehr empfahl, war ein ganz anderer als der, auf dem er hergekommen war, und ließ ihn an einer anderen Bahnstation herauskommen. »Fahre nie auf dem gleichen Weg nach Hause, auf dem du hergekommen bist«, riet sie ihm, als verkünde sie einen wichtigen, allgemein gültigen Lehrsatz.
    Sie würde als erste aufbrechen, und Winston sollte eine halbe Stunde warten, ehe er ihr nachkam.
    Sie hatte ihm einen Ort genannt, an dem sie sich vier Tage später abends nach der Arbeit treffen konnten.
    Es war eine Straße in einem der ärmeren Viertel, in der es einen sogenannten Freien Markt gab, auf dem gewöhnlich Lärm und Gedränge herrschte. Sie würde sich dort zwischen den Verkaufsständen herumtreiben und so tun, als suche sie nach Schnürsenkeln oder Nähgarn. Wenn sie die Luft für rein hielt, würde sie sich bei seinem Kommen die Nase schnäuzen; andernfalls sollte er, als kenne er sie nicht, an ihr vorübergehen. Doch mit ein wenig Glück würde es im Gedränge gefahrlos sein, eine Viertelstunde miteinander zu sprechen und eine neue Verabredung zu treffen.
    »Und jetzt muß ich gehen«, sagte sie, sobald er die ihm gegebenen Weisungen memoriert hatte. »Ich muß um 19.30 Uhr zurück sein. Ich muß zwei Stunden für die Jugendliga gegen Sexualität opfern – Handzettel verteilen oder so was Ähnliches. Ist es nicht eine Schande? Bürste mich mal ab, ja, sei so gut! Hab' ich auch keine Zweige im Haar? Bist du auch sicher? Dann leb wohl, Liebling, auf Wiedersehen!«
    Sie warf sich in seine Arme, küßte ihn leidenschaftlich und bahnte sich einen Augenblick später ihren Weg durch das Tannengestrüpp, worauf sie ganz lautlos im Wald verschwand. Noch immer hatte er weder ihren Namen noch ihre Adresse in Erfahrung gebracht. Aber das machte nichts, denn es war sowieso undenkbar, daß sie sich jemals unter einem Dach begegnen oder eine schriftliche Mitteilung miteinander austauschen würden.
    Es ergab sich jedoch, daß sie nie zu der Waldlichtung zurückkehrten. Im Laufe des Mais fanden sie nur noch ein einziges Mal Gelegenheit zu einem intimen Beisammensein. Das war in einem anderen Versteck, das Julia kannte, dem Glockenturm einer Kirchenruine, die in einer fast völlig verlassenen Gegend lag, wo vor dreißig Jahren eine Atombombe niedergegangen war. Aber der Weg dorthin war sehr gefährlich. Die übrige Zeit konnten sie sich nur auf der Straße treffen, jeden Abend an einer anderen Stelle und nie für länger als für eine halbe Stunde. Auf der Straße war es gewöhnlich möglich, miteinander zu sprechen, wenn man ein bestimmtes Verfahren einhielt. Während sie durch das Gedränge gingen, niemals dicht nebeneinander und ohne jemals einander anzusehen, führten sie eine merkwürdige, bruchstückweise Unterhaltung, die wie die Strahlen eines Leuchtturms aufzuckte und erlosch, beim Auftauchen einer Parteiuniform oder eines Televisors jäh ins Stocken geriet, dann Minuten später mitten in einem Satz wiederaufgenommen und ebenso plötzlich unterbrochen wurde, wenn sie an der vereinbarten Stelle auseinander gingen, um am nächsten Tag fast ohne Überleitung weitergeführt zu werden. Julia schien ganz an diese Art Unterhaltung gewöhnt zu sein, die sie das »Abzahlungssystem« nannte. Sie war auch erstaunlich geschickt darin, ganz ohne Lippenbewegung zu sprechen. Nur ein einziges Mal während eines Monats abendlicher Zusammenkünfte sollte es ihnen gelingen, einen Kuß zu tauschen. Sie gingen gerade wortlos durch eine Nebenstraße (Julia

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