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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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einmal getan ist, bleibt nie ein Beweisstück zurück. Der einzige Beweis lebt in meinem Geist, und ich habe nicht die geringste Gewißheit, daß auch nur ein einziger Mensch auf der Welt die gleiche Erinnerung hat. Nur in diesem einen Fall habe ich einen wirklichen handgreiflichen Beweis nach dem Geschehnis besessen, und zwar zwei Jahre danach.«
    »Und wozu war das gut?«
    »Zu nichts, denn ich warf ihn ein paar Minuten später fort. Passierte es mir heut, würde ich ihn aufbewahren.«
    »Ich nicht«, meinte Julia. »Ich bin zwar durchaus bereit, ein Risiko einzugehen, aber nur wenn es sich lohnt, nicht für einen Ausschnitt aus einer alten Zeitung. Was hättest du schon damit anfangen können, selbst wenn du es behalten hättest?«
    »Vielleicht nicht viel. Aber es war ein Beweisstück. Es hätte vielleicht da und dort einige Zweifel geweckt, falls ich gewagt hätte, es jemandem zu zeigen. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, daß wir zu unseren Lebzeiten etwas ändern können, so kann man sich doch denken, daß da und dort kleine Widerstandsgruppen entstehen – kleine Gruppen von ein paar Menschen, die sich zusammenschließen und die dann langsam größer werden und sogar ein paar Aufzeichnungen hinterlassen, so daß die nächste Generation da weitermachen kann, wo wir aufgehört haben.«
    »Die nächste Generation geht mich nichts an, mein Lieber. Mich interessieren nur wir .«
    »Du bist eine Revolutionärin von der Taille abwärts«, sagte Winston.
    Sie fand das ungemein witzig und warf ihm entzückt die Arme um den Nacken.
    Die Spitzfindigkeiten der Parteidoktrin interessierten sie nicht im geringsten. Wenn er von den Grundgesetzen des Engsoz , dem Zwiedenken, der Wandelbarkeit der Vergangenheit, der Leugnung einer objektiven Wirklichkeit sprach und Neusprachworte zu verwenden begann, wurde sie gelangweilt und 70
    George Orwell – 1984
    verwirrt und sagte, sie kümmere sich nie um solche Dinge. Man wisse doch, daß das alles Unsinn sei, warum sich also den Kopf damit beschweren? Sie wußte, wann man »Hurra« und wann man »Nieder« schreien mußte, und das sei alles, was man brauche. Wenn er darauf bestand, weiter über diese Themen zu sprechen, hatte sie die aufreizende Gewohnheit, jedesmal einzuschlafen. Sie gehörte zu den Menschen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jeder Lage schlafen können. Während er so mit ihr sprach, wurde er sich bewußt, wie leicht es war, sich den Anschein der Strenggläubigkeit zu geben und dabei nicht die leiseste Ahnung zu haben, was Strenggläubigkeit überhaupt bedeutete. In gewisser Weise ließen sich diejenigen am leichtesten von der Parteidoktrin überzeugen, die ganz außerstande waren, sie zu verstehen. Diese Menschen konnte man leicht dazu bringen, die offenkundigsten Vergewaltigungen der Wirklichkeit hinzunehmen, da sie nie ganz die Ungeheuerlichkeit des von ihnen Geforderten begriffen und überhaupt nicht genügend an politischen Fragen interessiert waren, um zu merken, was gespielt wurde. Dank ihrer Unfähigkeit, zu begreifen, blieben sie ganz unbeschadet. Sie schluckten einfach alles, und das Geschluckte schadete ihnen nichts weiter und ließ nichts zurück, genau wie ein Getreidekorn unverdaut durch den Magen eines Vogels hindurchgeht.
    Sechstes Kapitel
    Endlich war es soweit. Die erwartete Botschaft war gekommen. Sein ganzes Leben lang, schien es ihm, hatte er darauf gewartet. Er ging den langen Gang im Ministerium hinunter und war beinahe gerade an der Stelle angekommen, an der Julia ihm den Zettel in die Hand gedrückt hatte, als er merkte, daß jemand von größerer Statur unmittelbar hinter ihm herging. Der Betreffende, wer immer es sein mochte, ließ ein leises Hüsteln hören, offenbar als Einleitung zu einem Gespräch. Winston blieb unvermittelt stehen. Es war O'Brien.
    Endlich standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sein erster Impuls war davonzulaufen. Sein Herz klopfte heftig. Er hätte kein Wort hervorbringen können. O'Brien jedoch war ruhig weitergegangen, er legte einen Augenblick freundlich die Hand auf Winstons Arm, so daß sie jetzt nebeneinander hergingen. Er begann mit der eigentümlich ernsten Liebenswürdigkeit zu sprechen, die ihn von der Mehrzahl der Inneren Parteimitglieder unterschied.
    »Ich hatte schon immer auf eine Möglichkeit gehofft, mit Ihnen zu sprechen«, sagte er. »Ich las kürzlich einen Ihrer Neusprachartikel in der Times . Sie haben ein lebhaftes wissenschaftliches Interesse für die

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