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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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oder später eintreten mußte.
    Er erinnerte sich an das Zimmer, in dem sie wohnten, einen dunklen, dumpfigen Raum, der zur Hälfte von einem Bett mit einer hellen Steppdecke ausgefüllt schien. In der Wandnische war ein Gaskocher und darüber ein Brett, auf dem Nahrungsmittel lagen, und draußen auf dem Flur gab es ein Ausgußbecken aus braunem Steingut, das mehrere Mieter gemeinsam benützten. Er sah noch den statuenhaften Körper seiner Mutter vor sich, wie er sich über den Kocher beugte, um etwas in einem Kochtopf umzurühren. Vor allem erinnerte er sich an seinen ständigen Hunger und die erbitterten selbstsüchtigen Kämpfe bei den Mahlzeiten. Er pflegte seine Mutter immer wieder vorwurfsvoll zu fragen, warum es denn nicht mehr zu essen gab, er schrie sie an (er erinnerte sich sogar noch an den Klang seiner Stimme, die vorzeitig zu mutieren begann und sich manchmal merkwürdig überschlug) oder versuchte es mit einem weinerlichen Tonfall, um mehr als den ihm zustehenden Anteil zu erhalten. Seine Mutter war gerne bereit, ihm mehr als seinen Anteil zu geben. Sie fand es selbstverständlich, daß »der Junge« die größte Portion bekommen sollte; aber soviel sie ihm auch gab, er verlangte unabänderlich nach mehr. Bei jeder Mahlzeit flehte sie ihn an, nicht egoistisch zu sein und daran zu denken, daß sein Schwesterchen krank sei und auch etwas zu essen brauche, aber es half nichts. Er schrie zornig, wenn sie ihm nichts mehr austeilte, er versuchte, ihr die Schüssel und den Löffel aus der Hand zu reißen, er holte sich einzelne Bissen vom Teller seiner Schwester. Er wußte, daß er die beiden anderen damit zum Verhungern verurteilte, aber es war nichts dagegen zu machen; er hatte sogar das Gefühl, er habe ein Recht dazu. Der nagende Hunger in seiner Magengrube schien ihm eine hinreichende Rechtfertigung. Und wenn seine Mutter nicht aufpaßte, stahl er zwischen den Mahlzeiten von den armseligen Lebensmittelvorräten auf dem Wandbrett.
    Eines Tages wurde eine Schokoladeration verteilt. Seit Wochen oder Monaten hatte es keine Zuteilung mehr gegeben. Sie erhielten zu dritt ein Täfelchen im Gewicht von zwei Unzen (damals rechnete man noch nach Unzen), das offensichtlich in drei gleiche Teile geteilt werden sollte. Plötzlich hörte sich Winston, als vernehme er die Stimme eines fremden Menschen, mit schallender Stimme fordern, man solle ihm das ganze Stück geben. Seine Mutter ermahnte ihn, nicht so habgierig zu sein. Ein langes, nicht endenwollendes Hin und Her mit Geschrei, Gejammer, Tränen, Vorwürfen und Feilschen war die Folge. Seine winzige Schwester, die sich genau wie ein kleines Äffchen mit beiden Ärmchen an seine Mutter klammerte, saß dabei und sah ihn über deren Schulter hinweg mit großen traurigen Augen an. Schließlich brach seine Mutter drei Viertel von der Schokolade ab, gab sie Winston und das letzte Viertel seiner Schwester. Das Kind nahm es und sah es mit müdem Blick an; vielleicht wußte es gar nicht, was es war. Winston stand dabei und beobachtete es einen Augenblick. Dann riß er mit einem plötzlichen raschen Sprung seiner Schwester die 73
    George Orwell – 1984
    Schokolade aus der Hand und suchte die Tür zu erreichen.
    »Winston! Winston!« rief ihm seine Mutter nach. »Komm her! Gib deiner Schwester die Schokolade zurück!«
    Er blieb stehen, kam aber nicht zurück. Die ängstlichen Augen der Mutter waren auf sein Gesicht gerichtet. Sogar in diesem Moment noch dachte sie an das bewußte Ereignis, das bald eintreten mußte und das ihm rätselhaft war. Da seine Schwester gemerkt hatte, daß man ihr etwas weggenommen hatte, war sie in ein schwaches Wehklagen ausgebrochen. Seine Mutter legte den Arm um das Kind und preßte sein Gesicht an ihre Brust. Etwas an dieser Gebärde sagte ihm, daß seine Schwester bald sterben müsse. Er machte kehrt und rannte die Treppe hinunter, in der Hand die sich auflösende Schokolade.
    Er sollte seine Mutter nie wiedersehen. Nachdem er die Schokolade verschlungen hatte, schämte er sich ein wenig vor sich selber und trieb sich mehrere Stunden auf der Straße herum, bis ihn der Hunger heimtrieb. Als er nach Hause kam, war seine Mutter verschwunden. Das war zu jener Zeit bereits Normalzustand geworden. Außer seiner Mutter und Schwester fehlte nichts im Zimmer. Sie hatten keine Kleider mitgenommen, nicht einmal den Mantel seiner Mutter. Bis zum heutigen Tag hatte er keine Gewißheit, ob seine Mutter tot war. Es war durchaus möglich, daß sie nur in ein

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