Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Prolog
D er trockene Geruch von Frost. Erstarrte Welt. Steinerne Teufel kauern frierend in Dachrinnen, grinsen schadenfroh. Eisbögen ragen aus ihren Schlünden. Am Horizont bohrt sich der stumpf gebliebene südliche Domturm in den gläsernen Himmel. Keck wie eine Hutfeder sitzt ein Holzkran auf dem unvollendeten Dach. Der nördliche Turmzwilling ist nur Fragment. Dem Höchsten so fern. Seit fünf Jahren stehen die Arbeiten an Kölns gewaltiger Peterskirche still. Kein Abbild des Himmels – ein aufgegebener Versuch. Brüchig ist die Gemeinschaft in Christo geworden. Das ganze Jahrhundert hallt wider vom Lärm unnützer Theologen, vom eitlen Wortgezänk der Frommen und der Frömmler. Alles zerfasert in tausend Glaubenszweifeln. Längst sind auch vom Kern der lutherischen Lehre immer radikalere Gruppen abgesplittert: Wiedertäufer, Mennoniten, Hugenotten, Calvinisten, Zwinglianer, Pantheisten, Sakramentierer, Zungensprecher, Engelsbrüder. Eifernde Schwärmer.
»Was wir lehren ist die Wahrheit, was wir nicht lehren ist Lüge«, das sagen sie alle. Man hat Gott vom Himmel auf die Erde geholt und in die Übel der Welt verstrickt. Die Religion ist nicht mehr Führerin der Politik, sondern ihre Dienerin. Im Getöse der Waffen, dem Lärm der Worte werden die Schreie der Opfer, die Klagen der Leidenden und der Gequälten leicht überhört.
Überall werden die Ketzer wie Treibvieh gejagt – Frankreich, Spanien, England, die Niederlande. Jeder Unzufriedene wird von den Papisten als Protestant bezeichnet – oder wahlweise von den Protestanten als Ketzer gegen den eigenen Glauben. Man tötet wegen Meinungen, verbrennt Gedanken, richtet Träume hin. Die Päpste hüben, die Abtrünnigen drüben.
Wer seiner Kirche – welche es auch sei – nicht gehorcht, wird auch gegen seinen Kaiser, seine Fürsten, seinen Herrn ungehorsam und fordert am Ende gleiches Recht für alle.
Das ist das Ende.
Ganze Nationen liegen im Streit um die rechte Religion. Blutig sind die Gemetzel der Glaubensparteien. In Deutschland herrscht ein gläserner Friede. Vor zehn Jahren zu Augsburg gemacht. »Cuius regio, eius religio« – wes Untertan du bist, des Glauben ist dein. Freilich kursieren auch hier Spottblätter, auf denen deutsche Landesfürsten im Namen des rechten Glaubens nichts anderes als eine Lotterie betreiben: der eine wird evangelisch und gewinnt alle kirchlichen Pfründe, der andere bleibt katholisch und erobert sich abtrünniges Land hinzu.
In der Domstadt Köln ist man gutkatholisch, schon aus Gewohnheit. Und doch – auch in diesem Rom und Jerusalem des Nordens scheuen jetzt viele die Kosten und Mühen für einen so gewaltigen Bau wie den Dom, den die Vorfahren mit inbrünstiger Frömmigkeit begonnen haben. Die Augen himmelwärts. Vorbei. In Zeiten wie diesen, nach dem Pestsommer des vergangenen Jahres 1565, gibt man seine Groschen und Gulden lieber für Ablässe her, für Bittmessen und Zwölf-Stunden-Andachten, kauft Kerzen für die Madonna von Kalk, stiftet Votivgaben, um den Zorn Gottes zu besänftigen. Schließlich ragt überall der Tod ins Leben. Was bietet dagegen eine Kathedrale an Hoffnung, an Trost? Dieses Labyrinth von feinen Streben, Pfeilern, Stützen und Maßwerk. Die schmalgesichtigen, überschlanken Steinfiguren der Propheten, Apostel und Jungfrauen entsprechen nicht mehr dem Geschmack und waren von jeher unwillkommenes Zeugnis des erzbischöflichen Bestrebens, die Freie Reichsstadt und ihre stolzen Bürger ganz unter die Macht des Krummstabs zu zwingen. Und frei will man sein zu Köln, frei vor allem. Im Handel liegt Zukunft, und Geld ist keine Glaubensfrage, schon gar nicht, wenn soviel davon aus den Händen von Niederländern stammt, die es – leider, leider – immer öfter mit dem elenden Calvin halten. Ihrem Geld sieht man es nicht an.
Man hält sich in Köln – so es geht – heraus aus dem elenden Religionsgezänk, jagt Ketzer nur, wenn die Vernunft es gebietet und der Friede. Und Friede liegt an diesem Tag über der Stadt wie der trockene Geruch von Frost. Keiner ahnt, daß dieser Friede so gläsern wie jener von Augsburg ist. Für die Familie des Kaufherrn van Geldern währte er nicht einmal einen einzigen Tag.
I.
Die Eisläuferin
1
C olumba beugte sich tief über die Brüstung des Treppenturms, der das Kaufmannshaus im Sankt-Alban-Viertel hoch überragte. Wuchtig schob sich der nahe Rathausturm vor ihren Blick, Zeuge des irdischen Fleißes der Hanse- und Handwerkerstadt am Rhein. Still jubelnd
Weitere Kostenlose Bücher