1984
Minuten 68
George Orwell – 1984
ihr letztes Stündlein schlägt. Aber es gab auch Zeiten, in denen sie sich nicht nur in Sicherheit wiegten, sondern sich auch ganz der Illusion hingaben, daß ihr Zustand von Dauer sei. Solange sie sich in diesem Zimmer aufhielten, konnte ihnen – so fühlten beide – nichts Schlimmes widerfahren. Der Anmarschweg war zwar schwierig und gefährlich, aber das Zimmer selbst war eine Freistatt. Es war für Winston, als ob er in das Innere seines Briefbeschwerers geblickt hätte, mit dem Gefühl, es sei möglich, in diese gläserne Welt einzudringen und dann, wenn man erst einmal darin war, der Zeit Einhalt zu gebieten. Oft überließen sie sich Wunschträumen von einer Flucht. Ihr Glück würde ewig währen, und sie würden ganz einfach für den Rest des ihnen zugemessenen Lebens einander weiter lieben wie bisher. Oder Katherine würde sterben und ihnen würde durch vorsichtiges Manövrieren gelingen, sich zu heiraten. Oder sie würden gemeinsam Selbstmord begehen; oder von der Bildfläche verschwinden, ihr Äußeres bis zur Unkenntlichkeit verändern, im Dialekt der Proles sprechen lernen, in einer Fabrik arbeiten und ihr Leben unentdeckt in irgendeiner Hintergasse zu Ende leben. All das war, wie sie sehr wohl wußten, barer Unsinn. In Wirklichkeit gab es kein Entrinnen. Sogar den einzig durchführbaren Plan, nämlich Selbstmord zu verüben, beabsichtigten sie nicht wirklich auszuführen. Von Tag zu Tag und von Woche zu Woche weiterzumachen, eine Gegenwart zu genießen, die keine Zukunft hatte, schien ein unüberwindlicher Instinkt zu fordern, genauso wie die Lungen eines Menschen immer weiter atmen, solange noch Luft da ist.
Manchmal sprachen sie davon, sich offen gegen die Partei aufzulehnen, ohne jedoch eine Ahnung zu haben, wie der erste Schritt dabei aussehen sollte. Sogar wenn es die legendäre »Brüderschaft« in Wirklichkeit gab, blieb doch die Schwierigkeit, den Weg zu ihr zu finden. Er erzählte ihr von dem seltsamen Einverständnis, das zwischen ihm und O'Brien herrschte oder vielmehr zu herrschen schien, und von dem Verlangen, das er manchmal verspürte, ganz einfach vor O'Brien hinzutreten, ihm zu gestehen, daß er ein Feind der Partei sei, und ihn um seine Hilfe zu bitten. Merkwürdigerweise kam das Julia nicht als ein vorschneller Schritt vor. Sie pflegte die Menschen nach ihrem Gesicht zu beurteilen, und es schien ihr natürlich, daß Winston auf Grund eines einzigen Blickwechsels O'Brien für vertrauenswürdig hielt.
Außerdem nahm sie als sicher an, daß jeder – oder doch fast jeder – die Partei insgeheim haßte und gegen die Gesetze verstieß, sobald er glaubte, das ungestraft tun zu können. Aber sie bezweifelte entschieden, daß es eine weitverzweigte, organisierte Gegenbewegung gab oder geben konnte. Die Geschichten von Goldstein und seiner Untergrundbewegung, meinte sie, wären völliger Unsinn, den die Partei zu ihren Zwecken erfunden hatte und von dem man nur so tun mußte, als glaubte man ihn. Unzählige Male hatte sie bei Parteiversammlungen und spontanen Kundgebungen mit vollem Stimmenaufwand die Hinrichtung von Menschen gefordert, deren Namen sie nie zu vor gehört hatte und an deren angebliche Verbrechen sie nicht im entferntesten glaubte. Wenn Schauprozesse stattfanden, hatte sie ihren Platz unter der Abordnung der Jugendliga eingenommen, die von morgens bis abends vor dem Gerichtsgebäude Stellung bezog und in Abständen in den Ruf ausbrach: »Tod den Verrätern!« Während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung tat sie sich immer vor allen anderen darin hervor, Verwünschungen gegen Goldstein auszustoßen. Trotzdem hatte sie nur ganz unklare Vorstellungen davon, wer Goldstein überhaupt war und welche Doktrin er angeblich vertrat. Sie war nach der Revolution aufgewachsen und zu jung, um sich noch an die ideologischen Kämpfe der fünfziger und sechziger Jahre zu erinnern. So etwas wie eine unabhängige politische Bewegung ging über ihr Vorstellungsvermögen hinaus: Die Partei blieb ein für allemal unbesieglich. Sie würde immer da sein, und alles würde immer so bleiben, wie es war. Man konnte sich nur durch geheimen Ungehorsam dagegen auflehnen oder höchstens durch einzelne Terrorakte – indem man jemand umbrachte oder etwas in die Luft sprengte.
In mancher Beziehung sah sie viel klarer als Winston und war weit weniger für Parteipropaganda empfänglich. Als er einmal zufällig in irgendeinem Zusammenhang die Rede auf den Krieg gegen Eurasien
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