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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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das Gefühl, in ein dumpfes Grab hinabzusteigen; und es wurde ihm dadurch nicht viel leichter gemacht, daß er schon immer gewußt hatte, das Grab sei da und warte auf ihn.
    Siebentes Kapitel
    Winston war mit tränennassen Augen aufgewacht. Julia schmiegte sich schlaftrunken an ihn und murmelte etwas wie: »Was ist los?«
    »Ich habe geträumt . . .«, begann er und stockte. Es war zu verworren, um es in Worte zu kleiden. Da war einerseits der eigentliche Traum, damit aber war eine Erinnerung verknüpft, die ihm in den paar Sekunden nach dem Erwachen nicht aus dem Kopf gehen wollte.
    Er legte sich mit geschlossenen Augen zurück, noch immer in der Atmosphäre des Traumes befangen.
    Es war ein weitläufiger, leuchtender Traum, in dem sein ganzes Leben vor ihm ausgebreitet zu sein schien, wie eine Landschaft an einem Sommerabend nach dem Regen. Alles hatte sich im Innern des gläsernen Briefbeschwerers abgespielt, aber die Oberfläche des Glases war die Himmelskuppel, und innerhalb der Kuppel war alles von klarem sanften Licht durchflutet, in dem man in endlose Fernen blicken konnte. Im Traum war auch die Armbewegung vorgekommen – ja, sie spielte in gewissem Sinne die Hauptrolle darin –
    , die seine Mutter und dreißig Jahre später die jüdische Frau in der Wochenschau gemacht hatte, die Armbewegung, mit der sie den kleinen Jungen vor den Kugeln zu schützen versuchte, ehe die Helikopter sie beide in Fetzen schossen.
    »Weißt du«, sagte er, »daß ich bis zu diesem Augenblick geglaubt habe, meine Mutter ermordet zu haben?«
    »Warum hast du sie ermordet?« sagte Julia, noch aus dem Schlaf heraus.
    »Ich habe sie nicht ermordet. Nicht wirklich.«
    In dem Traum hatte er sich an das flüchtige Bild seiner Mutter erinnert, wie er sie zuletzt gesehen hatte, und während der paar Augenblicke des Erwachens waren ihm alle die kleinen damit zusammenhängenden 72
    George Orwell – 1984
    Begleitumstände wieder eingefallen. Es war eine Erinnerung, die er viele Jahre sorgfältig aus seinem Bewußtsein verbannt haben mußte. Er konnte das Datum nicht genau bestimmen, aber er mußte damals schon zehn, zwölf Jahre alt gewesen sein.
    Sein Vater war zu einem früheren Zeitpunkt verschwunden; wie viel früher, konnte er sich nicht mehr erinnern. Deutlicher entsann er sich der ungeordneten, unsicheren Lebensumstände der damaligen Zeit: der immer wiederkehrenden Paniken bei Luftangriffen und der Flucht in die Untergrundbahnhöfe, der überall herumliegenden Schutt- und Trümmerhaufen, der an den Straßenecken angeschlagenen unverständlichen Proklamationen, der Umzüge von Jugendlichen, die alle mit gleichfarbigen Hemden bekleidet waren, der riesigen Menschenschlangen vor den Bäckerläden, des abgehackten Knatterns der Maschinengewehre in der Ferne – vor allem aber der Tatsache, daß es niemals genug zu essen gab. Er entsann sich der langen Nachmittage, die er mit anderen Jungen damit verbracht hatte, die Mülltonnen und Abfallhalden zu durchsuchen, um Kohlstrünke, Kartoffelschalen und manchmal sogar vertrocknete Brotkrusten herauszuklauben, von denen sie sorgfältig die Kohlenasche abschabten. Und auch, wie sie auf das Vorbeikommen von Lastautos gewartet hatten, die gewisse Fernfahrten machten und von denen man wußte, daß sie Viehfutter geladen hatten; manchmal fielen, wenn sie an schlechten Stellen über die Straßenlöcher holperten, ein paar Ölkuchenbrocken herunter.

Als sein Vater verschwand, war seiner Mutter weder Erstaunen noch Kummer anzumerken, es ging lediglich eine plötzliche Verwandlung mit ihr vor. Sie schien völlig erloschen. Sogar für Winston war es offensichtlich, daß sie auf ein Ereignis gefaßt war, das nach ihrer Meinung unausweichlich kommen mußte.
    Sie tat alles Notwendige – kochte, wusch, nähte, machte die Betten, fegte den Fußboden, staubte den Kaminsims ab – immer sehr langsam und unter Vermeidung jeder überflüssigen Bewegung, wie eine zum Leben erwachte Gliederpuppe. Ihr großer wohlgestalteter Körper schien ganz natürlich in Ruhestellung zu fallen. Stundenlang saß sie beinahe regungslos auf dem Bett und streichelte seine kleine Schwester, ein winziges, kränkliches, sehr stilles Kind von zwei oder drei Jahren, mit einem vor Magerkeit affenähnlichen Gesicht. Nur manchmal schloß sie Winston in ihre Arme und preßte ihn lange Zeit wortlos an sich. Er merkte trotz seiner Jugend und seiner Selbstsucht, daß dies etwas mit dem nie ausgesprochenen Ereignis zu tun hatte, das früher

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