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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Goldstein
    Winston begann zu lesen:
    1. Kapitel
    Unwissenheit ist Stärke
    Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt.
    Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar . . .
    Winston hielt mit dem Lesen inne, hauptsächlich um sich genießerisch die Tatsache vor Augen zu halten, daß er in Geborgenheit und Sicherheit las. Er war allein: kein Televisor, kein Ohr am Schlüsselloch, kein nervöser Zwang, über die Schulter hinter sich zu blicken oder die Buchseite mit der Hand zu bedecken. Die milde Sommerluft streichelte seine Wange. Von irgendwo weit her drangen gedämpfte Kinderlaute; im 83
    George Orwell – 1984
    Zimmer selbst kein Geräusch außer dem insektenhaften Ticken der Uhr. Er setzte sich tiefer in seinen Lehnstuhl zurück und legte die Füße auf das Kamingitter. Es war Seligkeit, war Zeitlosigkeit. Plötzlich, wie man es manchmal mit einem Buch macht, von dem man weiß, daß man am Schluß jedes Wort lesen und noch einmal lesen wird, schlug er es an einer anderen Stelle auf und stieß auf das dritte Kapitel. Er fuhr zu lesen fort:
    3. Kapitel
    Krieg bedeutet Frieden
    Die Aufteilung der Welt in drei große Super-Staaten war ein Ereignis, das bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorauszusehen war und auch tatsächlich vorausgesehen wurde. Mit der Einverleibung Europas durch Rußland und des Britischen Empires durch die Vereinigten Staaten waren bereits zwei von den drei heute bestehenden Mächten in Erscheinung getreten. Die dritte, Ostasien, zeichnete sich erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kämpfe als deutliche Einheit ab. Die Grenzen zwischen den drei Superstaaten sind an manchen Stellen willkürlich, an anderen schwanken sie je nach Kriegsglück, aber im allgemeinen folgen sie geographischen Gegebenheiten. Eurasien umfaßt den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse von Portugal bis zur Bering-Straße.
    Ozeanien umfaßt die beiden Amerika, die Inseln im Atlantischen Ozean einschließlich der Britischen Inseln, Australien und den südlichen Teil von Afrika. Ostasien, kleiner als die beiden anderen und mit einer weniger festumrissenen Westgrenze, umfaßt China und die südlich davon gelegenen Länder, die Japanischen Inseln und einen großen, aber fluktuierenden Teil der Mandschurei, der Mongolei und Tibets.
    In der einen oder anderen Gruppierung liegen diese drei Super-Staaten ständig miteinander im Krieg, wie sie sich auch während der letzten fünfundzwanzig Jahre dauernd bekämpften. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist ein Waffengang mit beschränkten Zielen zwischen Kämpfenden, die nicht die Macht besitzen, einander zu vernichten, keinen materiellen Kriegsgrund haben und durch keinen echten ideologischen Unterschied getrennt sind. Das will nicht besagen, daß die Kriegführung oder die vorherrschende Einstellung dazu weniger blutrünstig oder ritterlich geworden wäre. Im Gegenteil, die Kriegshysterie wütet ständig und allgemein in allen Ländern, und Untaten wie Notzucht, Plünderung, Kindermord, Verschleppung ganzer Bevölkerungsteile in die Sklaverei, dazu Repressalien gegen Gefangene, die sogar soweit gehen, sie bei lebendigem Leib zu sieden und zu verbrennen, werden als normal und, wenn sie von der eigenen Seite und nicht vom Feind begangen werden, als verdienstlich angesehen. Aber mit ihrem Leben ist nur eine sehr geringe Anzahl von Menschen, größtenteils hochgeschulte Spezialisten, unmittelbar in die Kriegshandlungen verwickelt, und die durch sie verursachten Verluste an Gefallenen sind verhältnismäßig gering. Der Kampf, wenn überhaupt einer stattfindet, spielt sich an den undeutlich umrissenen Grenzen ab, deren Lage der

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