1984
einfache Mann nur mutmaßen kann, oder im Bereich der Schwimmenden Festungen, die strategische Punkte der Seewege einnehmen. In den Zivilisationszentren bedeutet der Krieg nur eine dauernde Kürzung der Gebrauchsgüter und den gelegentlichen Einschlag einer Raketenbombe, der vielleicht ein paar Dutzend Menschen zum Opfer fallen. Der Krieg hat in der Tat sein Wesen völlig gewandelt. Genauer gesagt haben sich die Gründe, um derentwillen Krieg geführt wird, in der Rangordnung ihrer Wichtigkeit geändert. Beweggründe, die bereits in bescheidenen Ausmaßen bei den großen Kriegen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mitsprachen, sind jetzt an die erste Stelle gerückt und werden bewußt anerkannt und in Rechnung gestellt.
Um das Wesen des gegenwärtigen Krieges zu verstehen – denn trotz der alle paar Jahre erfolgenden Umgruppierung handelt es sich immer um denselben Krieg –, muß man sich vor allem vergegenwärtigen, daß er unmöglich entschieden werden kann. Keiner der drei Superstaaten könnte, sogar unter Zusammenschluß der beiden anderen, endgültig unterworfen werden. Sie sind zu gleichmäßig stark und ihre natürlichen Verteidigungsmittel zu gewaltig. Eurasien ist durch seine riesigen Landflächen geschützt, Ozeanien durch die Ausdehnung des Atlantischen und des Pazifischen Ozeans, Ostasien durch die Gebärfreudigkeit und den Fleiß seiner Bewohner. Zweitens gibt es in materieller Hinsicht nichts mehr, um das man kämpfen könnte. Mit Einführung der Autarkie, bei der Produktion und Verbrauch aufeinander abgestellt sind, ist die Jagd nach Absatzmärkten, die eine Hauptursache früherer Kriege war, beendet, während der Wettstreit um Rohstoffe keine Existenzfrage mehr ist. Jedenfalls ist jeder der drei Super-Staaten so groß, daß er fast alle von ihm benötigten Materialien innerhalb seiner eigenen Grenzen finden kann.
Soweit der Krieg einen unmittelbaren wirtschaftlichen Zweck hat, ist es ein Krieg um Arbeitskräfte.
Zwischen den Grenzen der Super-Staaten und nicht in dauerndem Besitz eines derselben liegt ein annähernd viereckiges Gebiet, dessen Ecken von Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong gebildet werden und das etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Erde enthält. Um den Besitz dieser dichtbevölkerten Landstriche und den der nördlichen Eiszone geht der dauernde Kampf der drei Mächte. In 84
George Orwell – 1984
der Praxis beherrscht keine der Mächte jemals das gesamte strittige Gebiet. Teile davon wechseln dauernd den Besitzer, und die durch einen plötzlichen verräterischen Einfall geglückte Inbesitznahme dieses oder jenes Gebietsteiles bestimmt den endlosen Wandel der Mächtegruppierung.
Sämtliche strittigen Gebiete enthalten wertvolle Mineralschätze, und manche von ihnen erzeugen wichtige pflanzliche Produkte wie Gummi, der in klimatisch kälteren Landstrichen durch verhältnismäßig kostspielige Methoden synthetisch erzeugt werden muß. Aber vor allem enthalten sie ein unerschöpfliches Reservoir billiger Arbeitskräfte. Welche Macht Äquatorial-Afrika oder die Länder des mittleren Ostens oder Südindien oder den Indonesischen Archipel beherrscht, hat damit Hunderte von Millionen schlecht bezahlter und schwer arbeitender Kulis zu ihrer Verfügung. Die mehr oder weniger offen auf die Stellung von Sklaven herabgedrückten Bewohner dieser Gebiete gehen dauernd von dem Besitz des einen Eroberers in den des anderen über und werden ähnlich wie Kohlenbergwerke oder Ölquellen ausgebeutet, in dem Wettlauf, mehr Waffen zu produzieren, das vorhandene Gebiet zu vergrößern, über mehr Arbeitskräfte zu verfügen, und endlos so weiter. Man muß dabei im Auge behalten, daß der Kampf nie wirklich über die Randgebiete der umstrittenen Territorien hinausgeht.
Die Grenzen Eurasiens verlaufen schwankend zwischen dem Stromgebiet des Kongo und der Nordküste des Mittelmeers. Die Inseln des Indischen Ozeans werden ständig von Ozeanien oder von Ostasien erobert und zurückerobert. In der Mongolei ist die Trennungslinie zwischen Eurasien und Ostasien nie fest umrissen. Rund um den Pol erheben alle drei Mächte Anspruch auf riesige Gebiete, die faktisch weitgehend unbewohnt und unerforscht sind. Aber das politische Gleichgewicht der Kräfte bleibt stets so ziemlich das gleiche, und das Gebiet, welches das Kernland jedes Superstaates bildet, bleibt immer unangetastet.
Überdies ist die Arbeitskraft der um den Äquator angesiedelten ausgebeuteten Völker für die Weltwirtschaft
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