1986 Das Gift (SM)
in den Straßen der Stadt. Viele der Einwohner hatten sich erst spät, zehn, zwölf Stunden nach der ersten Durchsage oder gar erst bei Sonnenuntergang, zum Aufbruch entschlossen, hatten gewartet in der Hoffnung, Polizei und Militär würden auf so viel Dreistigkeit schlagkräftig reagieren und die Attacke vereiteln. Doch mit jeder weiteren Stunde war die Hoffnung geringer, war die Wehrlosigkeit der Bedrängten deutlicher geworden.
Die in Zusammenarbeit mit dem Gouverneur in Chilpancingo und mit der Regierung in México City eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen hatten bis jetzt nichts erbracht, und es war zu befürchten, daß auch die weiteren Bemühungen ins Leere stoßen würden. Man hatte zu wenig Anhaltspunkte. Das einzige zur Verfügung stehende Indiz war die Stimme des Mannes, der mit dem Krisenstab verhandelte. Seine Aussprache deutete darauf hin, daß er aus einer der nordwestlichen Provinzen Spaniens stammte. Einzelne Abschnitte seiner Durchsagen wurden vom mexikanischen Rundfunk in kurzen Abständen gesendet und waren auch an mehrere ausländische Polizeizentralen geschickt worden, aber es gab noch keine Reaktionen. Interpol war ebenfalls eingeschaltet, doch deren Computer spuckten nichts aus, weil nichts vorhanden war, womit man sie hätte füttern können! Die einzige Information, die von dort gekommen war, besagte, daß jüngste Beobachtungen der internationalen Terrorismus-Szene keinen Hinweis auf einen Anschlag in México ergeben hätten.
Der Polizeichef erhielt also ständig Negativmeldungen. So war auch die Herkunft der von den Tätern installierten Geräte nicht zu ermitteln gewesen, und die Befragung der Hotelangestellten, die den mit Bart, Hut und Sonnenbrille getarnten Gast gesehen hatten, war ergebnislos verlaufen.
Mittlerweile brachten die Fernsehanstalten der ganzen Welt den dreisten Erpressungsversuch in ihren Nachrichten, doch es bedeutete nur, daß wieder einmal eine Sensationsmeldung um den Globus ging und daß die Reiseveranstalter, soweit sie México im Programm hatten, Ausweichziele anboten.
Im Stadtgebiet von Acapulco waren zwar seit einigen Stunden Suchtrupps unterwegs, aber niemand glaubte, daß sie Erfolg haben würden. Als Versteck eines Giftfasses konnte jeder Kubikmeter Boden ebenso wie jedes Haus, jede Wohnung, jedes Büro, jeder Keller in Frage kommen, und das waren Millionen von Möglichkeiten.
Auch die von der mexikanischen Kriegsflotte vorgenommenen Schiffsbewegungen hatten die Lage nicht verändert. Zwar kreuzten inzwischen zwei Korvetten in weitem Abstand vor der Bucht, aber für die marineros galt das gleiche wie für die an Land befindlichen militärischen Einheiten: Sie durften nicht zuschlagen! Allenfalls konnten sie später, bei der Flucht der Gangster, von Nutzen sein.
In das herannahende amerikanische U-Boot setzten die Männer des Krisenstabes ebensowenig Hoffnung. Es befand sich zur Zeit auf der Höhe des Kaps Falso an der Südspitze der kalifornischen Halbinsel, also knapp siebenhundert Seemeilen entfernt. Es war ein großes Boot der Lafayette-Klasse, aber mit seinen 25 Knoten konnte es frühestens in achtundzwanzig Stunden Acapulco erreichen, und dann würde für den Kommandanten gelten, was für alle galt, die die Yacht in ihrem Fadenkreuz hatten: observieren ja, attackieren nein!
Im Zimmer 1610 herrschte gedrückte Stimmung. Die zweite Sprengung war viel heftiger ausgefallen als die erste. Zwar war es wiederum unblutig ausgegangen, doch hatte die Explosion zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert und sogar ein paar Häuser zum Einsturz gebracht. Und jeder wußte: Weitere Sprengungen würden folgen! Doch das war nicht die größte Sorge der Männer in der Kommandozentrale. Etwas anderes lastete noch schwerer auf ihnen. Um siebzehn Uhr war eine Durchsage gekommen, eine interne, nur für den Krisenstab bestimmte Mitteilung. Sie hatte zwanzig Sekunden gedauert, und ihren lapidaren Inhalt hatte noch jetzt, dreieinhalb Stunden später, jeder der Männer im Ohr.
»Hören Sie?«
»Wir hören.«
»Um 22 Uhr führen wir die nächste Sprengung durch; den Ort erfahren Sie noch. Um 22.15 Uhr teilen wir Ihnen mit, welches unserer Dioxindepots Sie freilegen und abtransportieren dürfen. Bis dahin hat unser Landkommando dafür gesorgt, daß es bei Berührung nicht hochgeht. Ende.«
Dr. Reyes war nach dieser Bekanntgabe weit davon entfernt gewesen, auf seine frühere Warnung hinzuweisen. Im Gegenteil, er hatte gesagt: »Die Ankündigung der Bereitstellung ist noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher