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1WTC

1WTC

Titel: 1WTC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich von Borries
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verschwunden.
    Ich verabschiede mich von ein paar Freunden und Bekannten, verlasse die Kunsthalle, überquere die Karl-Liebknecht-Straße und gehe schräg durch den Lustgarten zu der kleinen, ungepflegten Grünfläche zwischen Dom, Spree und Friedrichsbrücke. Ein leiser Pfiff. Er hat eine Ecke gewählt, die vom Licht der Straßenlaternen kaum erreicht wird, abseits des Bürgersteigs und der diagonal über die Rasenfläche verlaufenden Trampelpfade.
    »Lange nicht gesehen.«
    Die Jahre haben ihn verändert. Sein herausfordernder Blick ist weicher geworden. Ein trauriger Zug um die Augen, den ich so von ihm nicht kenne. Auch er mustert mich, aber seiner Miene ist nicht anzumerken, was er denkt. Unwillkürlich ziehe ich den alten Vergleich.
    »Ich will nicht lang drumrumreden: Ich brauche deine Hilfe. Ich habe ewig überlegt, wen ich fragen kann. Aber um meine Geschichte zu verstehen, muss man Ahnung von Architektur haben. Außerdem kann ich dir vertrauen.« Er schaut sich um, prüft die Umgebung, versichert sich, dass uns niemand beobachtet.
    »Lass uns essen gehen, und du erzählst mir deine Geschichte. Dann sehe ich ja, was ich machen kann«, schlage ich vor.
    »So einfach ist es nicht. Wir können nicht ins Restaurant gehen und reden. Mein Leben ist … Mein Leben ist kompliziert. Ich bin untergetaucht. Ich bleibe nie lange an einem Ort, erst recht nicht in Städten. Geldautomaten, U- und S-Bahnen, Flughäfen – alles viel zu streng überwacht. Ich hab keinen festen Wohnsitz, sondern lebe mal hier und mal dort, bei Freunden, in besetzten Häusern. Oder ich bau mir was im Freien. Ich geh nie in Restaurants.«
    Nachfragen macht keinen Sinn. Das war bei ihm schon früher so.
    »Also kein Restaurant. Wo dann?«
    »Komm für ein paar Tage nach Mecklenburg. Da hab ich einen Unterschlupf. Ach, noch was …«
    »Ja?«
    »Ich hab einen neuen Namen. Mikael Mikael. Den alten gibt es nicht mehr. Vergiss alles, was du von früher über mich weißt. Wir lernen uns jetzt erst kennen.«
    »Mikael? Okay, warum nicht. Aber mir ist immer noch nicht ganz klar, wie ich dir helfen soll.«
    »Keine Angst, da fällt mir schon was ein.« Er lacht kurz. »Aber dazu muss ich dir erst mal die ganze Geschichte erzählen.«
    »Und warum bist du dir so sicher, dass ich dir helfe?«
    »Ganz einfach: Weil du immer noch hier bist.«
    Ich muss lächeln, schließlich hat er recht. Ich könnte schon längst wieder in der Kunsthalle sein und dort mit einem Glas Wein bei meinen Bekannten stehen oder neue Leute kennenlernen. Aber irgendwie zieht mich das unheimlich Dunkle dieser weiß gekleideten Gestalt an.
    Eine Woche später fahre ich mit der Regionalbahn nach Schwerin, dann mit dem Fahrrad raus aus der Stadt, immer tiefer ins ländliche Mecklenburg. Nach zehn, zwölf Kilometern, kurz hinter einem kleinen Dorf, ein Feldweg, der in einen Wald führt. Eine kleine Lichtung, durch die Bäume sieht man das Ufer eines Sees, in dem sich die untergehende Sonne spiegelt. Dort, am Rand der Lichtung, verborgen hinter dichtem Brombeergestrüpp, steht ein alter Bauwagen.
    Mikael sitzt auf einer Bank vor der Tür. Wie bei unserer letzten Begegnung strahlt er eine gewisse Gelassenheit aus. Das Innere des Bauwagens ist komplett in Weiß gehalten, ein Bett mit Schlafsack, ein für die Größe des Wagens sehr langer Tisch, zwei Stühle. Eine kleine Kochnische.
    Auf dem Tisch drei beschriftete Kisten:
    Tom
    Jennifer
    Syana
    In den Kisten liegen Ordner und Papierstapel, gefaltete Pläne, ein Kalender, Notizbücher, davor ein Diktiergerät und etliche CDs.
    Mikael bringt eine Kanne Tee, schiebt die Kisten zur Seite und stellt zwei Tassen auf den Tisch. »Schön, dass du gekommen bist. Lass uns endlich anfangen.« Er zeigt auf die Kisten. »Das ganze Zeug ist aus New York.«

1.
    »World trade means world peace. The World Trade Center should become a representation of man’s ability to find greatness.«
    Minoru Yamasaki (1964)
    Mikaels Geschichte hat viele Anfänge. Sie könnte mit den Twin Towers beginnen, also im Jahr 1962, als der Architekt Minoru Yamasaki den Wettbewerb für ein Welthandelszentrum in New York gewinnt. Damit schlägt er berühmte Konkurrenten wie Walter Gropius und Philipp Johnson aus dem Rennen. Sein Entwurf sieht zwei hundertzehngeschossige Zwillingstürme vor. Die eleganten, minimalistischen und doch dekorativen Fassaden erinnern an das amerikanische Art déco und sind gleichzeitig dem International Style verpflichtet. So vereint er die beiden

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