20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
flog der Ausdruck des Schreckes über sein Gesicht und er rief:
„Old Shatterhand! Old – – Old – – –!“
„Ja. Old Shatterhand, ist's“, nickte ich; „der räudige Hund, den du im ferner Norden glaubtest. Bewege dich nicht, sonst schieße ich!“
Aber er war kein Mann, der sich länger als nur einen Augenblick vom Schreck beherrschen ließ; sein Gesicht nahm schnell den Ausdruck des Gleichmutes an, und er sagte im Ton der größten Ruhe:
„Uff! Du bist es wirklich. Ich höre, daß du uns belauscht hast. Was wünscht du, mit mir zu reden?“
Mit mir zu kämpfen, wagte er nicht, denn erstens war ich ihm da weit überlegen; das wußte er gar wohl, und zweitens sah er die Mündung des Revolvers und mußte annehmen, daß ich bei der geringsten Bewegung, die auf einen Angriff deutete, schießen würde. Ich blickte ihm fest in das Gesicht, denn sein Auge mußte mir seine Gedanken verraten. Es glitt von mir ab; er drehte den Kopf ein wenig um und sah nach hinten. Ah, er wollte entwischen, mit einem schnellen Sprunge ins Gebüsch hinein! Sollte ich mir den Spaß machen und ihn fortlassen? Ja! Er war mir ja auf alle Fälle sicher. Darum tat ich keinen Griff, um ihn festzuhalten, und antwortete:
„Ich will mit dir über deine Gefangenen sprechen, die du freigeben sollst.“
„Freigeben? Welch ein Verlangen! Was gehen sie dich an?“
„Sie sind meine Freunde.“
„Aber meine Feinde. Wir haben den Tomahawk des Krieges gegen die Bleichgesichter ausgegraben, und jeder Weiße, den wir einfangen, wird von uns an den – – –“
Weiter sprach er nicht; vielmehr drehte er sich bei dem letzten Worte blitzschnell um und sprang in das Gebüsch. Ich ging ihm nach, nicht schnell, sondern langsam, schlug dabei, um Geräusch zu machen, mit den Händen in das Gesträuch und rief, als ob ich in höchster Eile sei:
„Halt, halt! Bleib stehen, sonst schieße ich dich nieder!“
Meine Schläge in die Büsche, die er hören mußte, sollten in ihm den Glauben erwecken, daß ich hinter ihm herlaufe; dann aber ging ich zu seinem Pferd zurück und zog einen von den Riemen aus der Tasche, die ich gestern abend nach der Befreiung Dschafars eingesteckt hatte. Mit diesem Riemen band ich den einen Hinterfuß des Pferdes an der nächsten Buschwurzel fest und kroch hierauf schnell in mein Versteck zurück. Das Pferd stand ruhig und knabberte an dem Laub weiter.
Ich hätte To-kei-chun sehr leicht am Entweichen hindern können, aber es machte mir nun einmal Spaß, ihn nochmals zu überlisten. Ich nahm an, daß er eine Strecke fliehen und dann vorsichtig zurückkehren werde, um sein Pferd zu holen, denn dieses war ihm unentbehrlich und trug seine Medizin am Hals, für die ein Indianer hundertmal sein Leben wagt. Und selbst wenn diese Annahme eine irrige gewesen wäre und er auf das Pferd verzichtet hätte, so mußte er seinen Leuten zu Fuß nach und ich konnte auf seinem eigenen Tier hinter ihm her und ihn einholen.
Ich lag also wieder unter dem Efeu und hatte zwischen den Blättern eine Öffnung, welche mir erlaubte, nach allen Seiten zu blicken. Natürlich kam er nicht von derjenigen, in welcher er geflohen war und mich hinter sich glaubte; diese ließ ich also unbeachtet. Desto schärfer spannte ich nach den andern drei Seiten.
Da, nach ungefähr fünf Minuten, sah ich, daß sich gerade vor mir ein Busch bewegte, leise, sehr leise. Die Zweige teilten sich, und sein Gesicht erschien zwischen ihnen. Er blickte nach dem Pferd, sah mich nicht am Platz, glaubte also, daß ich noch nach ihm suche, und sprang nun eiligst herbei, um sich aus dem Staub zu machen.
Er gewahrte den Riemen nicht, stieg auf und wollte fort; das Pferd konnte nicht gehorchen; er forschte nach dem Grund, bemerkte, daß es mit dem Bein festhing und stieg wieder ab, um das Hindernis genauer zu betrachten. Als er sich dabei bückte, stand ich schon hinter ihm und sagte:
„Ich wußte es doch, daß To-kei-chun nur Spazierengehen wolle; drum ließ ich ihn fort und folgte ihm nicht, sondern wartete auf seine Rückkehr.“
Jetzt war sein Schreck noch größer, als das erstemal. Er fuhr empor und starrte mich ganz fassungslos an. Ich sah ihm lächelnd in das verzerrte Gesicht und fuhr fort:
„Damit er aber nicht wieder spazieren gehe, will ich ihm zeigen, daß er sich bei Old Shatterhand befindet.“
Er hatte sein Gewehr aus der Hand gleiten lassen, griff aber jetzt nach dem Gürtel, um das Messer zu ziehen; da traf ihn meine Faust an den Kopf; er
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