1706 - Lockvogel der Nacht
Beißen, saugen, dann diejenigen vernichten, die sie leer gesaugt hatte.
So hatte es bisher ausgesehen, aber das war ihr nicht mehr wichtig. Wenn sie sich jetzt satt trank, dann killte sie nicht mehr, sondern ließ ihre Opfer laufen. Nicht mehr als Menschen, sondern als Vampire, und das war neu bei ihr.
Sie hatte das Haus verlassen, das vor langer Zeit zu ihrem Quartier geworden war. Sie war unterwegs, sie brauchte Blut und suchte nach einem Ort, an dem sie es ungestört trinken konnte.
Dieser Ort musste einsam liegen. Keiner sollte sie beobachten. Menschen, denen sie das Blut aussaugen konnte, gab es genug. Sie waren auch an einsamen Orten zu finden. Nicht nur am Tag, sogar in der Nacht und auch bei einem kalten Wetter, wie es jetzt herrschte.
Die Cavallo besaß einen sicheren Instinkt. Auch in dieser kalten Nacht war sie nicht einfach losgelaufen, um irgendwo zu landen. Es gab schon ein Ziel, und das würde sie finden, dem war sie verbunden, denn es gab zwischen ihm und ihr ein unsichtbares Band, das sie aus dem Haus getrieben hatte.
So etwas hatte die Blutsaugerin bisher noch nicht erlebt. Zuerst hatte sie es auch nicht glauben wollen, dann aber war es passiert. Jemand oder etwas lockte sie.
Sie wusste, wie man sich verhielt, um nicht aufzufallen. Immer im Schatten haltend, selbst zu einem Schatten werdend. Eine bestimmte Strecke so schnell wie möglich zurücklegen, um an den Zielort zu gelangen.
In der Regel wusste sie nicht, wo die Jagd enden würde. Sie hoffte auf ihr Glück, und das war ihr bisher stets hold gewesen. In dieser Nacht war es anders. Da war die Verbindung entstanden. Sie war allein, aber sie fühlte sich trotzdem unter einer anderen Kontrolle, und der wollte sie sich fügen.
Die Innenstadt lag längst hinter ihr. Schwäche kannte die Cavallo nicht. Ihre Stärke war nicht mit der eines Menschen zu vergleichen. Sie kannte kein Zusammenbrechen. Sie war nie erschöpft. Es machte ihr nichts aus, gegen ein halbes Dutzend Feinde gleichzeitig zu kämpfen. So etwas zog sie locker durch, und denjenigen Menschen, die sie sich ausgesucht hatte, gab sie nicht die Spur einer Chance.
Es gab ein Ziel. Nur kannte sie es nicht. Und so lief sie weiter. Das Band war da, es würde sich ihr erst offenbaren, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.
Die Blutsaugerin eilte durch eine still gewordene Landschaft. Es gab hier nichts mehr, was sie hätte stören können. Die Welt war still, teilweise begraben unter einer Schneedecke, die auch an den Straßenrändern nicht weggetaut war.
Das Thermometer war wieder gefallen. Der Schnee und auch die Stellen, an denen er nicht lag, fingen an zu glitzern, als wären sie mit kleinen Diamanten bestreut worden. Tatsächlich aber hinterließ der starke Frost seine Spuren.
Die Tageswende hatte sie hinter sich gelassen. Sie lief mit raumgreifenden Schritten in den neuen Tag hinein, der erst viel später hell werden würde.
Schnee würde nicht fallen. Der war erst für später angesagt worden. So lag über ihr ein klarer Himmel, auf dem sich der Mond abzeichnete wie eine kalte Scheibe Metall.
Dem Glatteis an den verschiedenen Stellen wich sie nicht aus. Sie huschte einfach darüber hinweg. Gegen den Wind brauchte sie sich nicht zu stemmen, der wehte so gut wie nicht.
An einer Kreuzung blieb sie stehen. Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, aber das Locken in ihr war noch vorhanden und dem musste sie einfach nachgeben. Das wollte sie auch, obwohl sie nicht wusste, was sie letztendlich erwartete.
Aber sie war schon näher herangekommen. Die Stärke des unsichtbaren Bandes hatte sich erhöht. Justine schaute über die Kreuzung hinweg. Zwei einsam stehende Laternen warfen ihr kaltes Licht gegen den Boden und hinterließen dort einen schwachen Schein.
Passanten sah sie nicht. Die Straßen blieben leer. Justine huschte über die Kreuzung hinweg und sah auf der anderen Seite keine Häuser mehr, die ihr hätten Schutz bieten können.
Dafür sah sie etwas anderes. Es gab eine Mauer an der linken Seite. Über die Kante hinweg ragten die kahlen Äste einiger Bäume, und zum ersten Mal, seit sie das Haus verlassen hatte, konnte Justine wieder lächeln.
Sie hatte es geschafft. Oder fast. Ihr Ziel lag hinter der Mauer, und sie wusste auch, worum es sich handelte. Dieser Ort strömte etwas aus, das sie mochte. Es war wunderbar. Es war die Luft des Todes, der Vergänglichkeit, der auch von starkem Frost und tiefer Kälte nicht vertrieben werden konnte.
Sie war da!
Und sie blieb
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