2011 - komplett
herrschte Stille, während der jeder für sich versuchte, Rafes Enthüllung zu verarbeiten. Er selbst betrachtete sie alle etwas unruhig. Claire musste an sich halten, um nicht die Hand ermutigend auf seine zu legen.
„Nun, jetzt bist du daheim, mein Junge.“ Onkel Abner brach als Erster das Schweigen und lenkte die Unterhaltung in praktischere Bahnen. „Ich kann es kaum erwarten, dir die Fabrik zu zeigen. Wir zahlen unseren Arbeitern einen anständigen Lohn, musst du wissen. Das war schon immer so. Und stellen auch niemanden unter vierzehn Jahren ein.“
„Bei uns in der Gießerei stehen die modernsten Maschinen“, fügte Cousin Halbert stolz hinzu. „Elektrizität haben wir auch.“
„Ich würde sehr gern die Veränderungen sehen, die ihr vorgenommen habt“, sagte Rafe, und ihm war die Erleichterung anzusehen. „Ich erinnere mich noch, wie Stephen und ich einmal auf die Dachsparren geklettert waren und auf ihnen balanciert sind wie Seiltänzer, während die Arbeiter uns anspornten. Der arme Vorarbeiter – Mr Hampstead, glaube ich – brüllte uns an, wir sollten gefälligst herunterkommen.“
„Wegen euch Jungen und eurer Streiche wäre dem armen Mann fast das Herz stehengeblieben.“ Cousin Halbert sprach, ohne zu überlegen, blickte dann rasch zu Tante Hortense hinüber und zuckte zusammen.
Bei der Erwähnung ihres Sohnes waren ihr die Tränen in die Augen gestiegen, aber als sie die Blicke der anderen sah, blinzelte sie tapfer die Tränen fort. „Alle beide waren sie ganz fürchterliche Spitzbuben.“ Sie lächelte entschlossen. „Ich weiß nicht, wie wir sie ertragen haben.“ Sie betupfte sich die Augen mit dem Taschentuch. „Aber am Ende sind sie eigentlich ganz gut geraten. Gute Männer, alle beide.“
Dann beugte sie sich vor und drückte voller Zuneigung Rafes Hand.
Claire konnte dieses Bild den ganzen Morgen nicht vergessen – wie Tante Hortense Rafes Hand genommen hatte und Kraft und Trost daraus zu ziehen schien. Er hatte irgendetwas an sich, das andere Menschen stärkte und ermutigte. Woran es genau lag, konnte Claire nicht genau sagen. War es seine zuverlässige Gegenwart, seine lockere, tolerante Art oder das kluge Zwinkern in den Augen? Schließlich gab sie es auf, einen Begriff dafür zu finden. Rafe war einfach Rafe.
An jenem Nachmittag war es warm genug, sodass sie sich zu einem Spaziergang im kleinen Park gleich auf der anderen Seite des Platzes entschlossen. Den Nachbarn, die ebenfalls den milden Tag genießen wollten, stellten die Mayhews Rafe voller Stolz vor, als wäre er der Sohn der Familie. Jeder erkannte unbewusst seine Güte und Menschlichkeit, selbst die Kinder. Während die Erwachsenen sich unterhielten, blickten zwei kleine Jungen neugierig zu ihm auf.
„Sie sind aber groß“, sagte der Ältere der beiden.
Rafe ging neben ihnen in die Hocke. „Wisst ihr, wie ich so groß geworden bin?“
Sie schüttelten die Köpfe, und als Rafe die Stimme senkte, wie um ein großes Geheimnis zu verraten, war Claire genauso von ihm gefesselt wie die Jungen.
„Ich aß alles Gemüse, das ich in die Finger kriegen konnte. Salat, Suppengrün, Gurken, Kohl, Erbsen, Lauch ... einfach alles, was grün war. Es wirkt wie ein Zauber.
Esst euer Gemüse und bittet sogar um Nachschlag, und ihr werdet große, starke Cricket-Werfer. Meint ihr, ihr könnt das behalten?“
Sie nickten eifrig, und er zwinkerte ihnen zu und richtete sich auf.
Claire musste lachen, als die Jungen zu ihren Eltern zurückliefen und angeregt über Rafes geheimes Erfolgsrezept flüsterten. „Die Armen. Sehr wahrscheinlich werden sie im Frühling den Rasen vor ihrem Haus abgrasen.“
Er lachte leise und reichte ihr seinen Arm, damit sie ihren Spaziergang fortsetzen konnten. „Kinder. Sie sind überall auf der Welt gleich.“
„Inwiefern gleich?“
„Sie sind neugierig und für jede neue Idee offen, eifrig darauf bedacht, dazuzulernen und Neues zu erleben. Leider werden ihnen diese Eigenschaften langsam von Gesellschaft und Schule ausgetrieben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichen.“
„Gefährlich liberale Gefühle, Rafe Hutton“, neckte sie ihn. „Hast du noch nie gehört, dass man nicht an der Rute sparen soll, wenn man Kinder erzieht?“
„Ich habe mein Leben lang nichts anderes gehört. Aber ich bin davon überzeugt, dass es menschlichere und wirkungsvollere Wege gibt, um ein Kind zu erziehen.“
Claire war recht verblüfft. Er hatte Ansichten darüber, wie man Kinder erziehen
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