2011 - komplett
Erst jetzt wurde ihr langsam bewusst, dass er sie mit dem Rücken gegen die Wand neben der Treppe gedrängt und ein Knie zwischen ihre Beine geschoben hatte. Das Bestürzendste allerdings war, dass sie nichts lieber getan hätte, als sie noch weiter zu spreizen und sich an seinem harten Schenkel zu reiben.
Langsam, wie benommen, richtete Rafe sich auf und sah sich um, holte dann tief Atem und trat einen Schritt zurück, wohl um Claire die Möglichkeit zu geben, sich zu fassen. Hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Enttäuschung, ließ sie ihn ihre Hand nehmen und an die Lippen heben. Ihr wurde bewusst, was er tat – seine Ehre verlangte, dass er seine Leidenschaft zügelte und Zurückhaltung zeigte. Jetzt lernte sie, den Eigenschaften „nüchtern und vernünftig“ den Respekt entgegenzubringen, die sie verdienten. Und Rafes pflichtbewusste, vertrauenswürdige Haltung entsprach nun gar nicht dem Langweiler, als den sie ihn vorschnell bezeichnet hatte.
Die Erkenntnis erwärmte ihr das Herz, und sie zog ihn mit sich zur Treppe, nachdem sie kurz innegehalten hatte, um eine der Lampen mitzunehmen. Auf der Hälfte des Wegs blieb sie unter einem weiteren Mistelzweig stehen, hüpfte auf die nächste Stufe und gab Rafe einen Kuss. Er lachte, lief ihr voraus und hob sie neben sich auf den Treppenabsatz, wo er sie für einen verspielten Kuss an sich zog. Und als sie die Tür zu ihrem Zimmer erreichten, lehnte Claire sich an ihn und genoss das Gefühl seines großen, starken Körpers an ihrem, als er sie ein letztes Mal lange und genüsslich küsste.
Periwinkle tanzte fröhlich, wobei sie schillernde blaue Funken um sich herum verstreute. Ihr Herz füllte sich mit neuer Hoffnung. Womöglich war ihre Arbeit fast schon vollbracht. Das Leuchten, das das Paar umgab, während es sich küsste, bestätigte ihr, dass es im Begriff war, den Bund der wahren Liebe zu schließen.
„Rafe Hutton ist der Richtige für dich, Claire Halliday“, sang sie, ganz trunken vor Glück, und vergaß für einen Moment, wie eng sie mit Claires Gedanken und ihren Stimmungen verknüpft war. „Wer sonst könnte dich so küssen wie er? Ich sage nur, heirate den Mann und schenke ihm ein Dutzend Kinder!“
Claire riss die Augen auf. Heiraten? Kinder? Wo kamen diese Gedanken bloß her?
Etwas unruhig befreite sie sich aus Rafes Umarmung.
„Gute Nacht“, flüsterte sie und huschte eiligst in ihr Zimmer.
„Träum schön“, antwortete er lächelnd.
Sie lehnte sich an die Tür und spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Seit einer kleinen Ewigkeit hatte sie nicht mehr ans Heiraten und Kinder und eine Zukunft mit einem Mann gedacht. Würde das alles in diese Richtung führen? Wenn die Mayhews ein Wörtchen mitzureden hatten, dann gewiss. Doch was wäre, wenn Rafe in ihr nur eine erfreuliche kleine Ablenkung sah? Und was würde aus ihren Plänen werden, die Welt zu bereisen, sich eine eigene Wohnung zu nehmen und unabhängig zu sein?
Könnte sie ihre Träume aufgeben, die sie in den vergangenen vier Jahren immerhin am Leben erhalten hatten, und zulassen, dass jemand ihr Leben aufs Neue auf den Kopf stellte?
Sollte sie sich je für immer an jemanden binden, bedeutete es, dass sie auf ihn zählen und ihm ihr Leben anvertrauen konnte. Nach allem, was sie von Rafe gehört und gerade eben auch erlebt hatte, war er vertrauenswürdig, ehrenhaft und ehrlich.
Aber das hieß nicht, dass er ihre Träume teilte oder überhaupt in sie verliebt war.
Küsse führten sehr schnell zu hohen Erwartungen, und genau das konnte sich sehr gut als Falle entpuppen, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt wurden. Damit wirklich etwas aus diesem vielversprechenden Anfang wurde, durfte er nur aus den richtigen Motiven geschehen und nicht, weil ihre leicht schrulligen Verwandten sie dazu drängten. All das brauchte Zeit. In diesem Augenblick, da sie am ganzen Leib vor Verlangen brannte, war sie nicht in der Verfassung zu erkennen, ob sie wieder ein so großes Risiko eingehen wollte ... weder mit Rafe noch mit sonst jemandem.
Periwinkle stand draußen im Flur, den Blick bedrückt auf Claires Tür geheftet, und las mit sinkendem Mut die plötzlich so verwirrenden Gefühle ihres Schützlings. Dann wandte sie sich um und sah Rafe auf sein eigenes Zimmer zugehen. Seine Miene war ernst, als wären auch ihm Zweifel gekommen.
„Du kannst die Dinge nicht erzwingen, Periwinkle.“
Die Stimme gehörte einem der Erzengel, der die Novizinnen betreute. Die Wahrheit seiner
Weitere Kostenlose Bücher