2011 - komplett
endlich zu überwinden?
Der Omnibus passierte soeben den Friedhof der St.-John’s-Kirche, wo Stephen zur Ruhe gebettet worden war. Zum ersten Mal seit vier Jahren wandte Claire sich nicht von seinem Anblick ab. Die hohen, kahlen Bäume, die unzähligen Grabsteine und Denkmäler machten ihr nicht mehr das Herz schwer, schnürten ihr nicht mehr die Kehle zu. Es war einfach nur ein stiller, geheiligter Ort, der denjenigen Trost spendete, die sich an ihre Erinnerung klammerten. Hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Bedauern, erkannte Claire, dass sie diesen Trost nicht mehr brauchte.
Was sie stattdessen brauchte, war ein eigenes Leben. Die Zeit war gekommen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und einige jener Träume zu verwirklichen, die ihr Leben in den vergangenen vier Jahren erträglich gemacht hatten. Ihr Blick fiel auf das Bündel auf ihrem Schoß, und unwillkürlich strich sie mit der Hand darüber, um die Umrisse der Bücher darin zu spüren. Sie wollte reisen und die Wunder sehen, über die sie gelesen hatte. Sie wollte exotische Speisen kosten, den Klang fremder Sprachen hören und einen Sonnenuntergang erleben, der nicht vom Nebel und dem Rauch der Schornsteine Londons getrübt wurde. Und vielleicht würde sie irgendwo auf ihren Reisen auch einem hochgewachsenen dunkelhaarigen Fremden begegnen, der wieder ein Gefühl der Erregung, der Hoffnung und innigen Vertrautheit in ihr erwecken könnte.
Dunkelheit begann sich herabzusenken, als Claire Mayhew House erreichte. Wie alle Häuser in dieser Gegend war es ein großes Anwesen mit einem schönen Garten zur Straße hinaus. Ein Eisenzaun umgab das Grundstück, dessen Eingangspforte sich zu einem eindrucksvollen Bogen erhob. Der warme Lichtschimmer, der aus den Fenstern drang, und der elegante, von einem gepflegten Rasen gesäumte Weg zum Haus sprachen von Wohlstand und allen Annehmlichkeiten eines behaglichen Lebens. Allerdings war das Leben hinter jenen eindrucksvollen, schwarz lackierten Toren zurzeit leider alles andere als behaglich.
Claire hielt kurz unter dem Torbogen inne und wunderte sich schon fast, dass während ihrer Abwesenheit kein Trauerkranz an der Tür angebracht worden war. Sie atmete tief die eiskalte Luft ein und wappnete sich, als sie eintrat, für die schwermütige Stimmung, die sie zweifellos erwartete.
„Da ist sie!“ Tante Hortenses durchdringende Stimme erschallte hinter einem riesigen Stapel von Kisten, der die Eingangshalle füllte. „Claire ist zu Hause!“
Claire blieb an der offenen Tür stehen und betrachtete verwundert Tante Hortense, Stephens Mutter, die mit ihrer leicht verrutschten Haube und der schmutzigen Schürze einen äußerst ungewöhnlichen Anblick bot. In diesem Moment erschien hinter dem Stapel staubiger Kisten auch Cousine Tillie, ebenfalls mit einer Schürze angetan. Bevor Claire ihr Erstaunen ausdrücken konnte, kam Tante Eloise aus dem Esszimmer, ausgestattet mit Schürze und Ärmelschonern. Seit Claire denken konnte, legten die Mayhews eine gewisse Besessenheit an den Tag, wenn es um das Thema Staub ging. Dies hier ging allerdings weiter als alles, was sie bisher erlebt hatte.
„Was hat das hier zu bedeuten?“, fragte sie.
„Ach, du Armes! Du bist ja halb erfroren!“ Tante Hortense wischte Claire die Regentropfen von den Schultern und betastete ihre kühlen Wangen. „Du musstest ja leider darauf bestehen, auch beim schlimmsten Wetter zu deinem Buchklub zu gehen. Komm, wir müssen dich schnellstens von den feuchten Sachen befreien, bevor du dir noch eine Lungenentzündung zuziehst!“
Während sie ihr gemeinsam Bücher und Mantel abnahmen – der tatsächlich sehr feucht und kalt war –, wiederholte Claire ihre Frage.
„Was ist in all diesen Kisten? Woher kommen sie?“
„Vom Dachboden und aus dem Keller“, rief Onkel Abner, der mit einem weiteren verstaubten und vergilbten Pappkarton in den Armen die Treppe herunterkam. Zum ersten Mal seit Jahren erlaubte er sich ein Lächeln, das sein schmales, ernstes Gesicht weicher erscheinen ließ. „Wir haben überall Dinge verstaut.“
Während Claire noch versuchte, den Sinn dieser Antwort zu begreifen, nahm Tante Hortense sie bei der Hand und zog sie in den Salon, wo die Reste des Nachmittagstees noch auf sie warteten. Claire setzte sich in einen Sessel dicht am Kamin, Tante Eloise zog ihr die Handschuhe aus und Cousine Tillie hüllte sie in eine Häkeldecke, als wäre Claire noch ein Kind.
„Trink deinen Tee, mein Liebes, um
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