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Sommergewitter

Sommergewitter

Titel: Sommergewitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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Prolog
    Der Kontrolleur kommt. Ruhig bleiben! Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe, Augen geschlossen. »Noch jemand zugestiegen?« Er geht weiter. Glück gehabt.
    Die Frau auf dem Sitz gegenüber sieht auf, mustert mich, gähnt. Ihre Lippen sind rot, die Zähne schlecht, die Fingernägel lackiert, aber schmutzig. Es interessiert sie nicht, dass ich schwarzfahre.
    Ich blinzele nach draußen. Ein Falke rüttelt hoch über einer Wiese. Fängt er die Maus? Schon sind wir vorbei. Passieren ein paar hässliche Häuser, einen leeren Bahnhof. Rapsfelder schütten ihr giftiges Gelb in meine Augen.
    Der junge Mann neben mir notiert in winziger Handschrift Worte in sein Tagebuch. Manchmal blättert er verträumt die Seiten zurück und ich kann Überschriften lesen:
Mexiko, Peru.
Er hat die Welt bereist. In der abgegriffenen Kladde hat er sein Leben festgehalten, das voll ist von farbigen Bildern ferner Länder. Ich habe nichts. Ich würde ihm gern seine Vergangenheit stehlen.
    Die Klimaanlage ist zu hoch eingestellt. Mir ist kalt. An meinen bloßen Knien klebt noch Sand. Der Sand, in dem sie vielleicht gelegen hat. Wir bremsen.
    Über den Häuserdächern der nächsten Stadt ragt ein Riesenrad in den Himmel. Ich steige aus. Die Kirmes ist
nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich renne. Seitenstiche. Mir bricht der Schweiß aus. Hier ist das Gewitter noch nicht angekommen. Hier herrscht noch die Schwüle des Nachmittages.
    Auf dem Platz ist es laut. Im mit blinkenden Lichterketten behängten Baum versucht eine schwarze Amsel vergeblich gegen die Musik anzusingen. Ein Mann pinkelt gegen den Stamm. Ein kleines Kind verliert seinen Teddy, hebt ihn wieder auf, drückt ihn an sich. Kaugummi klebt unter meinem Schuh. Geruch nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. »Jetzt mitspielen, jetzt gewinnen!« Ich habe immer nur Nieten gezogen. Trotzdem mag ich Jahrmärkte, habe schon davon geträumt, einmal auf die Angebote der Schausteller einzugehen und mitzureisen. Jeden Tag eine andere Stadt. Jeden Tag bunte Lichter. Jeden Tag Geschwindigkeit, Alkohol, Rausch.
    Ich steige in die Achterbahn. Schnell muss es gehn. Ich will fliegen, stürzen, den Kopf verlieren. Vorher trinke ich mir Mut an. Sie trank kaum, vertrug keinen Alkohol. Ich schon. Sie mochte auch keine Kirmes. Aber an ihrem letzten Abend ist sie auf einer gewesen.
    Hoch über der Stadt, die ich nicht kenne. Angst, Schreien, Adrenalinkick. Und noch einmal: rauf, runter, rauf, runter. Ich trinke und fahre, bis ich abhebe. Ja, ich will fliegen. Neben mir sitzt ein Junge mit Turnschuhen, die aussehen, als bestünden ihre Sohlen aus tausend blauen Sprungfedern. Raketenschuhe. Sein Grinsen ist so blöd wie die Kappe, die er auf dem Kopf trägt. Aber die Schuhe: geil.
    Auf der Kirmes spielen sie meist ältere Hits. Damit alle Spaß haben. Sie hatte keinen. Aber ich.
Girls wanna have fun!
Ich will mitsingen. Hänge kopfüber und die Gedanken fallen heraus. Mein Mund ist offen.
    Danach ist mir flau. Zu wenig gegessen. Macht nichts! Man kann in meiner Situation nicht an alles denken.
    Ich laufe über den Platz. In der Masse bin ich sicher und unauffindbar. Die Menschen trinken und taumeln, drängeln und schubsen.
    Extreme
heißt das nächste Karussell. Den Chip kann ich gerade noch bezahlen. Er ist extrem teuer. Umsonst ist nur der Tod.
    Die Gondel schießt nach oben. Der Platz neben mir ist diesmal leer. Die Abendlichter flirren um mich herum, die Amsel singt, der Sitz ist rosa und hat Löcher, der Haltebügel drückt in meinen Magen, ich rutsche fast heraus.
    Wieder sause ich dem Erdboden entgegen. Senkrecht.
    Die Fahrt ist zu Ende. Plötzlich. Neben mir lacht ein Liebespärchen, umarmt und küsst sich. Ich lache nicht, aber ich möchte auch umarmt und geküsst werden, scheißegal von wem.

Freitag, 12   Uhr
    Der Nachmittag, an dem meine Cousine Ginie verschwand, war heiß.
    Zwei Monate hatte es nicht mehr geregnet. Felder, Wiesen, Pferdekoppeln   – alles war bräunlich verfärbt und knochentrocken und der Lokalsender des Münsterlands warnte vor Waldbrandgefahr. Seit Tagen hatten wir in der Schule nach der vierten Stunde hitzefrei, aber es freute sich kaum noch jemand darüber, schon um zehn kletterte das Thermometer in tropische Höhen.
    Ginie und ihr Vater waren vormittags angekommen, als ich noch in der Schule war. In Berlin hatten sie bereits vor zwei Wochen Sommerferien bekommen, die meisten Bundesländer waren dieses Jahr früher dran als wir und ich fand es ungerecht, immer

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