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2012 – Das Ende aller Zeiten

2012 – Das Ende aller Zeiten

Titel: 2012 – Das Ende aller Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian D’Amato
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…«
    »Oberherr, Großer Vater,
    Großvater-Großmutter,
    Jadesonne, Jadeozelot,
    Der du 25-Duellant-des-Sees-der-Drei-Hügel gefangen genommen hast,
    Der du 1000-Würger-des-Gebrochenen-Himmels gefangen genommen hast …«
    Unsere Beine bewegten sich. Unsere Hände schoben den Kopfputz zurück – er fühlte sich an wie ein hohes steifes Kissen mit Quasten aus Katzenfell –, wischten aber nicht das Blut aus unserem Gesicht.
    »Der du 17-Sandsturm-des-Verbrannten-Berges gefangen genommen hast,
    Ernährer, Wachthüter,
    Jadener 9-Reißzahn-Kolibri:
    Wann trittst du wieder
    Aus deiner Himmelshöhle,
    um uns zu erhören, um auf uns zu blicken?«
    Mit gesenktem Kopf krochen wir zu der niedrigen Tür und wanden uns hindurch an die frische Luft. Die Menschenmengen auf den Plätzen verstummten abrupt; dann schienen alle gleichzeitig nach Luft zu schnappen; Atem strömte in so viele Lungen, dass ich glaubte, ich könnte den Druckabfall spüren. Wir erhoben uns. Auf unserer Haut rasselten Jadeschuppen und Stachelausterperlen. Es schien, als strömte das wenige Blut, das wir noch besaßen, aus unserem Kopf. Ich nehme an, dass selbst dieser Körper an jedem anderen Tag schlappgemacht hätte, doch nun hielt der höhere Adrenalinspiegel ihn aufrecht. Wir schwankten nicht einmal auf unseren hohen Plateausandalen, die mit ihren beinahe zwanzig Zentimeter dicken Sohlen fast schon Stelzen waren. Ich spürte, dass ich nun kleiner war als Jed, leichter und kräftiger. Ich fühlte mich ganz und gar nicht wie achtundvierzig. Eher wie sechzehn. Eigenartig. Ich hob den Blick. Unter uns breitete sich Ix aus und bedeckte die Welt.
    Unsere Augen nahmen den Anblick zweieinhalb Sekunden lang in sich auf, dann schauten sie wieder zu Algenib hoch. Der kurze Blick hatte mir genügt, um zu erkennen, dass im Jahr 2012 – oder inirgendeinem vorhergehenden Jahrhundert – niemand auch nur die leiseste Ahnung gehabt hatte, wie es hier tatsächlich aussah.
    Zu sagen, wir hätten uns geirrt, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Wir hatten uns nicht geirrt – wir hatten keinen blassen Schimmer gehabt. Wir waren dumm gewesen. Es war, als wären wir durch die Wüste marschiert und hätten eine Handvoll bleiche Knochen aus den zweihundertundnochwas gefunden, die unser Skelett bilden, und statt aus den wenigen Rippen und Wirbeln das Geschlecht, das Alter und das genetische Erbe herauszulesen und dann aufzuhören, hatten wir aus den paar Knochen geschlossen, wie dieser Mensch gelebt hatte, was er getragen hatte, was seine Hobbys gewesen waren, wie seine Kinder geheißen hatten und so weiter, und hätten dann ein umfangreiches biografisches Lehrbuch über ihn verfasst, einschließlich beigefarbener Tortengrafiken und blutleerer Illustrationen in mieser Gouache. Jetzt aber begegnete ich dem leibhaftigen lebenden Menschen, und er hatte nicht nur äußerlich kaum Ähnlichkeit mit der Rekonstruktion – seine ganze Persönlichkeit, seine Lebensgeschichte und sein Platz im Universum unterschieden sich völlig von unseren prosaischen Mutmaßungen.
    Die Reste der Ruinen, die bis ins 21. Jahrhundert überdauert hatten, machten weniger als fünf Prozent der Geschichte aus. Sie waren bloß die steinernen Fundamente einer Stadt, die weniger aus Stein erbaut war als vielmehr aus Riedgras, Leisten und Schilfrohr gewebt und geflochten, geknotet und geschnürt war – eine Korbwerk-Metropole, die allem, was ich mir vorgestellt hatte, so unähnlich war, dass ich nicht einmal die Wahrzeichen entdecken konnte, von denen ich wusste. Wir blickten nach Osten zum Fluss und auf den Cerro San Enero, den höchsten Gipfel der Gebirgskette, die das Tal von Ix umgibt. Er war wieder aktiv, spie einen Fächer aus schwarzer Asche in die malvenfarbene Vordämmerung … Nein, warte, sagte ich mir. Auf keinen Fall ist das ein echter Vulkan. In dem erloschenen Krater musste ein Scheiterhaufen aus Kautschukbaumholz aufgeschichtet worden sein. Aber mit den anderen Bergen stimmte auch etwas nicht. Zuvor waren sie bewaldet gewesen, jetzt waren sie allesamt kalt, und an den Hängen hatte man Terrassen und Plätze angelegt; die Gipfel warenmit einem Kopfputz aus Rohrgeflecht geschmückt, der strahlte wie die Krone der Freiheitsstatue. Ansammlungen von Punkten oder Flecken oder sonst etwas tanzten vor und über den Bergen und Türmen. Zuerst hielt ich diese Punkte für eine optische Täuschung oder für irisierende Nematoden, die in meiner Augenflüssigkeit schwammen, doch

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