Die Geliebte des Malers
1. K APITEL
Cassidy wartete.
Mrs. Sommerson warf ihr achtlos das dritte Kleid in die Arme. »Nein, das ist auch nicht das Richtige«, murmelte sie und begutachtete mit gerunzelter Stirn eine dunkelblaue Kreation aus Leinen. Doch nach einem kurzen Augenblick flog dieses Kleid ebenfalls auf Cassidys Arm. Die sich tapfer ermahnte, die Geduld nicht zu verlieren.
Seit drei Monaten arbeitete Cassidy nun schon als Verkäuferin in »The Best Boutique«, und sie hatte eigentlich das Gefühl, sehr geduldig geworden zu sein. Das war alles andere als einfach gewesen.
Ergeben folgte sie Mrs. Sommersons imposanter Figur zur nächsten Kollektion. Nachdem sie siebenundzwanzig Minuten lang stumm wie ein Kleiderständer herumgestanden war, fand Cassidy allerdings, dass ihre hart erkämpfte neue Tugend hier wirklich auf eine harte Probe gestellt wurde.
»Ich werde noch dieses hier anprobieren«, verkündete Mrs. Sommerson schließlich und marschierte zurück zur Umkleidekabine.
Leicht verärgert steckte Cassidy eine lockere Haarnadel fest. Julia Wilson, die Inhaberin der Boutique, war erbarmungslos pedantisch. Keinem Härchen war es erlaubt, sich aus der Frisur ihrer Angestellten zu lösen und auf die Schultern zu fallen. Adrett, ordentlich und fantasielos. Cassidy rümpfte leicht die Nase und hängte das blaue Leinenkleid zurück.
Wie bedauerlich, dass Cassidy chaotisch, spontan und ganz und gar nicht ordentlich war. Ihr Haar schien ihre Persönlichkeit nur noch zu unterstreichen: Da mischten sich alle Schattierungen, von hellstem Blond bis zu sattem Braun. Das Ganze ergab einen wunderbaren Goldton, wie man ihn von alten Gemälden her kannte. Das schwere lange Haar weigerte sich beharrlich, sich von Haarnadeln einzwängen zu lassen. Ständig rutschten vorwitzige Strähnen heraus. Wie Cassidy selbst war es widerspenstig und störrisch und doch so weich und faszinierend.
Eigentlich war es sogar Cassidys etwas unkonventionelles Aussehen gewesen, das ihr zu dem Job verholfen hatte. Erfahrung gehörte nämlich ganz bestimmt nicht zu ihren Qualifikationen. Aber Julia Wilson hatte sofort die Möglichkeiten erkannt, mit Cassidy für die etwas wagemutigeren Kollektionen Werbung zu machen.
Cassidy war groß und schlank, mit einer Figur, zu der satte Farben und ausgefallene Schnitte bestens passten. Ihr Gesicht war zweifellos auch ein Plus. Julia war sich nicht sicher, ob es schön zu nennen war, aber mit Sicherheit war es ein außergewöhnliches Gesicht, eines, das auffiel. Cassidy hatte geradezu aristokratische Züge. Feine Augenbrauen bogen sich über schräg stehenden Augen, die in dem schmalen Gesicht übergroß wirkten und von einem erstaunlichen Violett waren.
Julia betrachtete Cassidys Gesicht, ihre Figur und ihre wohlklingende Stimme zwar als Qualifikation, aber sie bestand dennoch darauf, dass sie ihr Haar hochsteckte. Wenn Cassidy es offen trug, verlieh es ihren aristokratischen Gesichtszügen eine betrüblich übermütige Qualität.
Julia war begeistert von Cassidys Jugend, von ihrer Intelligenz und ihrer schier unerschöpflichen Energie.
Allerdings musste sie sehr schnell feststellen, dass ihre Angestellte keineswegs so formbar war, wie ihre Jugend hatte vermuten lassen. Julias Ansicht nach hatte Cassidy den unglücklichen Hang, sich zu viel Vertraulichkeit mit den Kunden zu erlauben. Mehr als einmal war Julia schon Zeuge davon geworden, wie Cassidy indiskrete Fragen stellte und ungebetene Ratschläge erteilte. Zudem spielte da von Zeit zu Zeit ein geheimnisvolles Lächeln um ihre Lippen, wenn sie die Kunden bediente, so als würde sie sich über einen vorzüglichen Witz amüsieren. Außerdem verlor sie sich zu oft in Tagträumereien. Kurz: Julia Wilson hegte inzwischen ernsthafte Zweifel, ob Cassidy St. John tatsächlich die passende Besetzung für ihre Boutique war.
Nachdem die von Mrs. Sommerson abgelehnte Auswahl wieder an ihrem ursprünglichen Platz hing, nahm Cassidy ihren Platz neben der Umkleidekabine ein. Sie konnte das leise Rascheln von Stoff hören. Wie immer, wenn sich die Möglichkeit bot, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Die kehrten unweigerlich zu dem Manuskript zurück, das auf dem Schreibtisch in ihrer Wohnung lag. Und auf sie wartete.
Solange Cassidy denken konnte, träumte sie davon, zu schreiben. Vier Jahre lang hatte sie diese Kunst mit gewissenhaftem Ernst studiert. Als sie mit neunzehn ohne Familie und mit nur sehr wenig Geld dastand, finanzierte sie sich ihr Studium mit allen möglichen
Weitere Kostenlose Bücher