2012 - Folge 3 - Tödliches Vermächtnis
Mal an der Schaufensterpassage vorbei. Vierhundert Schritt hin, vierhundert zurück.
Die nahe Metrostation spie wieder Passagiere aus. Ihre Stimmen übertönten den vorbeifließenden Verkehr; wenigstens so lange, bis sie sich in alle Richtungen verloren. Danach wurde es ruhiger. Für ein paar Minuten, bis das Spiel von neuem begann. Der Pulsschlag von Madrid.
Tom schaute sich um. Niemand beobachtete ihn.
Noch fünfunddreißig Minuten … Ungeduldig tippte er mit dem Finger auf das Gehäuse seiner Armbanduhr. Der Zeiger lief dennoch keine Nuance schneller.
Warum habe ich nicht auf einem früheren Termin bestanden?
Es war müßig, darüber nachzudenken. Vor zwei Tagen war er unglaublich zufrieden gewesen, dass er überhaupt diesen Termin erhalten hatte. Víctor Javier Tirado hätte ihn ebenso gut zum Teufel jagen können.
Ericson drehte nicht wieder vor dem Fußgängerüberweg um, um sich einmal mehr wie ein Hamster in seinem Laufrad zu fühlen. Er überquerte die Straße und ging weiter. Kies knirschte unter seinen Sohlen, als er die angrenzende Parkanlage betrat. Bis er zurückschaute, war das Hochhaus schon von knorrigen Bäumen verdeckt.
»Ich schlage vor, Sie schauen in den nächsten Tagen bei mir vorbei, Mister Ericson, dann sehen wir weiter.« In Gedanken hörte er Tirado das sagen.
Wieder ging sein Blick zur Uhr, von wachsender Unruhe geprägt. Er war dem Ziel nun so nahe, da durfte nichts schiefgehen.
Nach seiner nächtlichen Flucht war er nicht nach Cáceres zurückgekehrt. Ybarras oder Big Ricos Leute konnten dort überall auf ihn lauern. Es wäre es ein selbstmörderisches Unterfangen gewesen, sein Gepäck im Hotel abzuholen. Stattdessen war er noch eine halbe Stunde weitergefahren, Richtung Portugal. An einer kurvenreichen Strecke hatte er angehalten und Big Ricos Limousine einfach rollen lassen. Was von ihr übrig war, lag nun am Fuß einer hohen Steilwand. Mochten die Kerle denken, dass er nicht mehr lebte oder dass er seine Flucht zu Fuß nach Portugal fortgesetzt hatte. Irgendwann würde er für sie nicht mehr interessant sein.
Hier, in der Millionenstadt Madrid, fühlte Ericson sich sicherer.
In einem Mittelklassehotel hatte er sich für drei Tage eingemietet. Dann war er einkaufen gegangen: neue Kleidung und ein Netbook. Und, für den Fall der Fälle, in einem Secondhand-Shop eine neue Maskerade. Die dickrandige klobige Brille war so hässlich, dass sie schon wieder cool wirkte. Der Stetson schien bei einem Viehtransport unter die Hufe geraten zu sein. Und den falschen Schnauzbart, der ihn an Stalin erinnerte, hatte er in einem Laden für Scherzartikel gesehen.
Die Kreditkarte einzusetzen, erschien ihm wegen des damit verbundenen Risikos, aufgespürt zu werden, zu unsicher. Nicht nur die Polizei konnte auf diese Daten zugreifen, sondern auch einflussreiche Verbrecher vom Format eines Víctor Alexej Ybarra. Also musste er mit dem wenigen Bargeld, über das er noch verfügte, haushalten.
Darum hatte er für den Rest des Geldes kein Neugerät, sondern ein gebrauchtes Netbook erstanden. Eine Fehlinvestition, wie sich später herausstellte. Alles daran funktionierte – bis auf den kabellosen Internetzugang. Der Versuch, es umzutauschen, endete in einem heftigen Streit, weil der Händler des Elektronik-Ramschladens behauptete, ihn nie zuvor gesehen zu haben.
Schließlich hatte Tom aufgegeben. Die Polizei hinzuzuziehen war momentan nicht in seinem Sinne.
Als Nächstes telefonierte er mit Víctor Javier Tirado. Einen halben Tag lang hatte er es immer wieder vergeblich versucht, bis er den Mann endlich persönlich erreichte.
»Wir kennen uns bislang nicht persönlich, Señor Tirado, aber ich bin ein alter Bekannter Ihres Vaters«, stellte er sich vor. »Ericson ist mein Name, Tom Ericson; ich bin Archäologe und Dozent an der Yale-Universität. Ich suche vergeblich nach der Telefonnummer Ihres Vaters. Aber da er oft von Ihnen gesprochen hat, versuche ich es jetzt einfach bei Ihnen …«
»Bevor Sie weiterreden, Mister Ericson, muss ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen«, kam es zurück.
Tom tat überrascht. »Ist etwas mit Ihrem Vater?«
»Er ist verstorben. Schon vor der Jahrtausendwende.«
»Oh. Das tut mir leid, Señor Tirado. Wir haben uns in Mexiko kennengelernt, auf Cozumel, genauer gesagt. Warten Sie, ich überlege gerade, wann das war. Mitte der Achtziger.«
»Sommer 1985«, hatte Tirado ihm mit Bestimmtheit geantwortet. »Mein Vater war nur einmal auf Cozumel.«
»Ja,
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