2084 - Noras Welt (German Edition)
Rubin, Nova, stimmt’s?«
Nova nickt. Uma kann Gedanken lesen. Jedenfalls Novas Gedanken.
Die alte Frau zieht den Holzstuhl vom Schreibtisch heran und setzt sich Nova gegenüber. Sie sagt: »Heute werde ich dir von den Vögeln erzählen, die damals in den Bergen gelebt haben. Weißt du, ich kann immer noch das wehmütige Flöten des Goldregenpfeifers hören.«
»Du brauchst mir gar nichts zu erzählen«, sagt Nova bitter. »Höchstens, wie alle diese Vögel wieder zurückkommen können.«
Sie schaut die Urgroßmutter an. Das Gesicht der alten Frau spricht von tiefer Trauer. Oder Reue, vielleicht ist es auch Reue.
Aber Nova kennt kein Erbarmen.
»Außerdem will ich die Menschenaffen, die Löwen und die Tiger wiederhaben. Sie sollen alle reinstalliert werden, verstehst du! Und hier bei uns will ich die Bären und die Wölfe wiederhaben. Und die witzigen Meerespapageien, die Papageientaucher, meine ich. Und den Großen Brachvogel, den darfst du auf keinen Fall vergessen! Und die Alpenbeerentraube, den Alpenehrenpreis, den Gletscherhahnenfuß und die Krautweide. Weißt du, dass die Krautweide eigentlich ein Busch war, auch wenn sie nur zwischen einem und fünf Zentimeter hoch wurde? Oder warst du’s sogar, die mir das erzählt hat?«
Die alte Frau zuckte zusammen. »Aber Nova …«
»Weißt du, was ich will? Soll ich’s dir sagen? Ich will eine ganze Million Tier- und Pflanzenarten wiederhaben! Nicht mehr und nicht weniger, meine liebe Urgroßmutter. Und ich will wieder sauberes Wasser aus der Leitung trinken können. Und mit der Angel unten am Fluss stehen. Und ich will, dass endlich mit dem ewig nassen Winterwetter Schluss ist.«
»Aber Nova. Nova!«
»Ich sage ja nur, dass ich in einer genauso herrlichen Welt leben möchte wie du, als du so alt warst wie ich. Und weißt du, warum? Weil du mir das schuldig bist!«
»Jetzt hör auf, Nova!«
»Oder soll ich dich zur Strafe in den Wald jagen? Nein, gib mir lieber die Welt zurück. Gib mir eine Herde wilde Rentiere auf der Hardangervidda, eine in Jotunheimen und eine in Rondane. Jetzt gleich! Sonst kannst du genauso gut wieder gehen.«
»Aber Nova …«
»Weißt du, ich wünschte mir, die Menschheit und alles andere, was auf diesem Planeten kreucht und fleucht, bekäme noch eine zweite Chance. Wäre das nicht genial? Ich meine, das wäre doch wirklich nicht zu viel verlangt. Ich stelle es mir vor wie bei einem Wettschießen: Wer beim ersten Mal danebenzielt, darf es noch mal probieren. Nur das meine ich, wenn ich sage, dass du mir die Welt zurückgeben sollst. Wäre das nicht ausnahmsweise eine richtig gute Idee? Ich finde, wenn man eine Dummheit begangen hat, soll man es sich nicht nur mit seinem schlechten Gewissen gemütlich machen. Nein, dann soll man aufstehen und wiedergutmachen, was man angerichtet hat. Sei also eine liebe gute Urgroßmutter und gib mir die ausgestorbenen Pflanzen und Tiere zurück, ja, Uma? Danach können wir uns gern über den Gesang der Vögel unterhalten …«
Für den Bruchteil einer Sekunde schaut sie ihrer Urgroßmutter in die Augen. Deren Lider flattern jetzt ein wenig. Die alte Frau sieht ängstlich und traurig aus. Aber gleich darauf fällt Nova sich selbst ins Wort.
»Ach, was rede ich für einen Unsinn! Das ist doch alles Quatsch. Man kann ja sowieso nichts mehr ändern. Hab ich recht, Uma? Oder willst du mir erzählen, dass es irgendeinen Geist in der Flasche oder sonst wo gibt, der uns noch helfen kann?«
Uma versucht, sich gerade hinzusetzen. Fast sieht es aus, als hätte sie Angst, ihre Urenkelin könnte sie ins Gesicht schlagen. Mit der Faust. Hart.
Aber dann sagt die alte Frau: »Ja, Nova. So etwas Ähnliches wollte ich dir erzählen.«
»Aha?«
Die alte Frau spielt wieder mit dem geheimnisvollen Rubin und wirft dabei einen verträumten Blick auf ihre Urenkelin.
»Vielleicht bekommt die Welt ja wirklich noch eine Chance …«
Die kleine geschrumpfte Uma, was redet sie denn? Aber da ist auch dieser verschwörerische Ton, der etwas so Ansteckendes hat, dass Nova die Stimme senkt und fragt: »Wie meinst du das? Soll das heißen, es gibt eine Art genialen Trick?«
Umas Augen funkeln, als sie energisch nickt. Dann lächelt sie listig.
Sie sind Freundinnen, doch, das geht, man kann mit seiner eigenen Urgroßmutter befreundet sein. Uma war schließlich auch einmal sechzehn. Wer nicht? Die Frage ist nur, was sie beide ausrichten können. Nova schaut die blutroten Wände und dann Uma in ihrem blauen Kimono an.
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