2084 - Noras Welt (German Edition)
sah.
Bälle, Hockeyschläger und Rodelbretter wurden aufs Eis gebracht, aber Nora zog es vor, allein am Ufer entlangzugehen. Sie betrachtete das gefrorene Heidekraut und sah unter einer dünnen Eisschicht Moos und Flechten, Brombeeren und rote Krähenbeeren mit feuerroten Blättern. Es sah schön aus, fast so, als hätte man eine edlere, feinere Welt betreten. Doch dann fiel Noras Blick auf eine tote Maus … und dort lag noch eine. Und unter einer Zwergbirke lag ein toter Lemming. Nora wusste, was das bedeutete, und die märchenhafte Stimmung, die sie eben noch verspürt hatte, war verflogen. Sie wusste, dass Mäuse und Lemminge den Winter unter weichen Schneedecken zwischen Sträuchern und Gestrüpp verbrachten. Und wenn es keine weichen Schneedecken gab … dann wurde das Überleben für Mäuse und Lemminge schwer.
Nun wusste Nora auch, warum die wilden Rentiere ins Tiefland hinabzogen. Mit dem Weihnachtsmann hatte das nichts zu tun.
DR. BENJAMIN
Sechs Jahre später sitzt Nora mit ihren Eltern zu Hause in dem alten Holzhaus, das sie bewohnen. Draußen ist es schon seit Stunden dunkel, und Noras Vater hat alle Kerzen auf dem Kaminsims und der Fensterbank angezündet. Es ist der 10. Dezember, noch zwei Nächte bis zu Noras sechzehntem Geburtstag.
Ihre Eltern sitzen auf dem Sofa vor dem Fernseher. Sie sehen einen Film über den Stillen Ozean, ein Märchen für Erwachsene aus der Zeit der Segelschiffe. Oder ist es eine Dokumentation über einen der sagenumwobenen Kapitäne des 18. Jahrhunderts? Nora ist sich nicht sicher. Sie sitzt am Esstisch und schaut nur gelegentlich zum Fernseher hinüber. Sie hält eine große Schere in der Hand, mit der sie Artikel aus Zeitungen ausschneidet, die sich vor ihr auf dem Tisch stapeln …
Im August war Nora in die gymnasiale Oberstufe gewechselt, und schon nach wenigen Tagen auf der neuen Schule hatte sie Jonas kennengelernt, der eine Klasse über ihr war. Sie waren auf Anhieb gute Freunde geworden und hatten dann für eine Weile so getan, als wären sie ein Liebespaar. Es war ein Spiel, doch irgendwann war ihnen aufgegangen, dass es kein Spiel mehr war.
Nora saß mit einer großen Teetasse vor ihren Zeitungsausschnitten und lächelte. Seltsam, wie schnell sich das Leben verändern konnte!
Auf das, was heute passiert war, war sie allerdings gut vorbereitet gewesen. Sie hatte endlich Tante Sunnivas alten Ring bekommen. Dass der an ihrem sechzehnten Geburtstag in ihren Besitz übergehen würde, wusste sie schon lange, und nun hatten sie ihr den Ring schon heute überreicht, weil ihre Mutter am nächsten Morgen zu einer Tagung nach Oslo musste. Sie hatten schön zusammen gegessen, zum Nachtisch gab es eine Torte vom Konditor, die mit einer roten Marzipanrose geschmückt war, und nach dem festlichen Mahl hatten sie den Ring mit dem Rubin aus seiner alten Schatulle genommen. Seitdem steckte er an Noras Finger, und auch beim Ausschneiden musste sie sich das kostbare Stück immer wieder ansehen.
Der Ring war über hundert Jahre alt, und manche hielten ihn sogar für noch viel älter. Um das Familienkleinod rankte sich ein ganzer Schatz von spannenden Geschichten.
Außerdem hatte Nora zum Geburtstag das heiß ersehnte neue Smartphone bekommen. Aber so faszinierend es war, dass man nur einen kleinen Bildschirm berühren musste, um ins Internet zu kommen – an das wunderbare Erbstück reichte das kleine Wunderwerk der Technik nicht heran.
Es war ein seltsamer Herbst, und das Seltsamste war eine Reise nach Oslo Mitte Oktober gewesen. Der Grund für diese Reise war etwas, das Noras Umgebung schon seit dem Frühjahr ein wenig beunruhigte.
Nora hatte schon immer eine lebhafte Fantasie besessen. Wenn man sie fragte, woran sie gerade dachte, konnte sie schon als kleines Kind lange Geschichten aus dem Ärmel schütteln, und die Erwachsenen waren davon immer nur begeistert gewesen. Doch im Frühling dieses Jahres waren ihr plötzlich Geschichten in den Sinn gekommen, von denen sie glaubte, sie seien wirklich und wahrhaftig geschehen. Sie glaubte auch, dass sie diese Geschichten von irgendwoher empfing, dass sie vielleicht aus einer anderen Zeit, wenn nicht sogar aus einer anderen Wirklichkeit stammten.
Am Ende hatte sie sich überreden lassen, darüber mit einer Psychologin zu sprechen, und diese Gespräche hatten über den ganzen Herbst verteilt stattgefunden. Schließlich wollte die Psychologin Nora zu einem Psychiater in Oslo schicken, und Nora hatte keine Einwände.
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