2084 - Noras Welt (German Edition)
lief durchs Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Sie durfte jetzt an nichts anderes denken. Sie musste sich ganz darauf konzentrieren, sich so genau wie möglich an den langen Brief zu erinnern, den Uma, genau 72 Jahre bevor er angekommen war, geschrieben hatte.
Der Rechner war bereit, und sie schrieb:
Liebe Nova,
ich weiß nicht, wie es auf der Welt aussieht, wenn du das hier liest. Aber du weißt es. Du weißt, wie schlimm die Klimakatastrophe und wie reduziert die Natur inzwischen ist, und vielleicht weißt du sogar genau, welche Tier- und Pflanzenarten es nicht mehr gibt …
Mehr fiel ihr für den Augenblick nicht ein. Der Brief war lang und ausführlich gewesen, und sie konnte nur hoffen, dass ihr Gedächtnis irgendwann im Laufe des Tages besser funktionierte. Sie nannte die Datei »Brief an Nova« und speicherte sie.
Nora warf einen Blick zum hohen, schmalen Fenster und sah, dass es ein strahlend sonniger Dezembertag war. Das war schön, denn sie hatte schulfrei; sie brachte es nur noch nicht über sich, irgendwelche Pläne zu machen. Die Sonne war gerade aufgegangen und zauberte lange Schatten in die verschneite Landschaft, aber der Tag musste warten. Nora ging immer noch ihr Traum durch den Kopf, der Traum, der ihr genauso wirklich erschien wie der Wintertag draußen. Nur wärmer.
Sie schaute über ihren Schreibtisch. Dort lagen einige zerlesene Exemplare der State-of-the-World-Jahrbücher, eine neue Ausgabe der norwegischen Roten Liste bedrohter Tier- und Pflanzenarten , ein kleines Buch über Klimaveränderungen und A Gap in Nature – Discovering the World’s Extinct Animals, das wunderbare Buch von Tim Flannery und Peter Schouten, das ihr Vater ihr vor Kurzem aus Australien mitgebracht hatte.
Über dem Schreibtisch war ein Bücherregal angebracht, in dessen unterstem Fach zwei Schuhkartons standen, die Nora mit rotem Geschenkpapier verkleidet hatte. Auf dem einen Karton stand: Was ist die Welt? ,auf dem anderen: Was muss getan werden? In den Kartons lag ihre Sammlung von Zeitungsausschnitten und Ausdrucken von Artikeln aus dem Netz.
Dem Netz!
In Noras Traum hatte Nova Artikel aus diesen roten Kartons gelesen! Artikel, die Nora ausgeschnitten hatte, die letzten erst am Vorabend, während ihre Eltern den Fernsehfilm über Kapitän Cook gesehen hatten.
Sie stand auf, nahm die Kartons aus dem Bücherregal und stellte sie auf den Schreibtisch. Rasch sah sie alle Artikel durch, und bald hatte sie das Gesuchte gefunden:
Eine wichtige Grundlage einer jeglichen Ethik war bislang die goldene Regel oder das Prinzip der Gegenseitigkeit: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Doch diese goldene Regel kann heute nicht länger nur eine horizontale Dimension besitzen – also ein »wir« auf der einen und »die anderen« auf der anderen Seite. Wir begreifen immer mehr, dass das Prinzip der Gegenseitigkeit auch eine vertikale Dimension besitzt: Verhalte dich gegenüber der nächsten Generation so, wie du wünschst, die Generation vor dir hätte sich dir gegenüber verhalten.
So einfach ist das. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, und das muss selbstverständlich die nächste Generation mit einbeziehen – es muss absolut alle mit einbeziehen, die nach uns auf der Erde leben werden.
Denn die Menschen auf der Erde leben nicht gleichzeitig. Die gesamte Menschheit lebt nicht auf einmal. Auf der Erde haben vor uns Menschen gelebt, einige leben jetzt, und andere werden nach uns leben. Und auch die, die nach uns leben werden, sind unsere Mitmenschen. Sie sind es, gegenüber denen wir uns so verhalten müssen, wie wir uns wünschten, die Bewohner unseres Planeten vor uns hätten es uns gegenüber getan.
So einfach ist die Formel. Darum dürfen wir keinen Erdball hinterlassen, der weniger wert ist als der, auf dem wir selbst leben durften. Also keinen mit weniger Fischen im Meer, weniger Trinkwasser, weniger Nahrungsmitteln, weniger Regenwald, weniger Gebirgsnatur, weniger Korallenriffs, weniger Gletscher und Skiloipen, weniger Tier- und Pflanzenarten …
Keinen, auf dem es weniger Schönheit, weniger Wunder, weniger Herrlichkeit und weniger Freude gibt!
Puh! Als Nora den Text wiedergelesen hatte, war sie erschöpft. Es war das dritte oder vierte Mal, dass sie ihn las – und was für ein Gedanke, dass ihn ihre Urenkelin in über siebzig Jahren im Netz finden würde! Alles, was heute dort stand, würde ja höchstwahrscheinlich bis
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