2084 - Noras Welt (German Edition)
fuhr mit einem Ruck hoch und riss die Augen auf. Im Zimmer roch es fremd, irgendwie streng und stickig. Sie schaltete die Leselampe über dem Bett ein und schaute über die hellblau tapezierten Wände zur Mansardendecke hinauf.
Sie hatte geträumt …
Und was war das für ein seltsamer Traum gewesen, so rätselhaft und verheißungsvoll!
Sie hatte weit in der Zukunft gelebt und doch im selben Mansardenzimmer gewohnt wie jetzt. Nur waren in ihrem Traum die Wände blutrot gewesen, und unter der schrägen Decke hatte sich ein riesiger Flachbildschirm mit Internetzugang befunden.
Sie hörte draußen die Meisen singen; bei schönem Wetter zwitscherten sie manchmal auch im Winter. Doch dann hörte sie unten bei der Tankstelle einen Automotor aufheulen. Eine Tür wurde zugeknallt. Dann kam ein zweites Auto, von Westen. Dann noch eins, und das fuhr schnell.
Sie fasste sich an den Finger und betastete den Ring mit dem roten Rubin, das Kleinod, das seit fast hundert Jahren im Besitz der Familie war. Damals war Tante Sunniva nach Amerika ausgewandert, wo sie den Ring von ihrem Verlobten bekommen hatte, einem jungen Mann, der nur wenige Wochen nach der Verlobung unter rätselhaften Umständen im gewaltigen Mississippi ertrunken war.
»Der alte Karfunkelstein« – so nannten sie den purpurroten Edelstein oft, fast so, als hielten sie ihn für magisch, als könnte er Wunder vollbringen und würde sie alle überleben. Seit dem gestrigen Abend gehörte der Ring nun also Nora. Vorher hatte er der Großmutter gehört, die ein Jahr zuvor gestorben war, und die Großmutter hatte ihn von ihrer kinderlosen Tante geerbt, besagter Tante Sunniva. Noras seltsamer Traum hatte auch mit dem Ring zu tun gehabt …
Sie hatte geträumt, dass sie Nova hieß, aber sie hatte auch eine Urgroßmutter namens Nora gehabt, die noch dazu am selben Tag geboren war wie sie selbst. Heute war der 11. Dezember 2012, und am nächsten Tag war Noras sechzehnter Geburtstag.
Am Ringfinger hatte diese Urgroßmutter – »Uma« – einen in Gold gefassten Rubin getragen, einen, wie ihn Nora trug. Natürlich war es derselbe Rubin gewesen – und auch derselbe Finger! Im Traum war sie ihre eigene Urenkelin gewesen, und mit dem Blick der Urenkelin hatte sie sich selbst als Urgroßmutter gesehen.
Nun war es an sich nichts Besonderes, dass Nora im Traum ihre eigene Urenkelin war; in einem anderen Traum war sie schon Napoleon gewesen und in wieder einem anderen eine gewöhnliche Gans. Aber war diesmal wirklich alles nur ein Traum gewesen? Da war sich Nora nicht so sicher. Was sie geträumt hatte, kam ihr ganz nah und wahr vor, und das nicht nur während des Traums, sondern auch jetzt noch, nachdem sie schon eine Zeitlang wach war.
Ein paar Generationen weiter in der Zukunft waren ganze Lebensräume in der Natur vernichtet und Tausende von Tier- und Pflanzenarten ausgerottet. Voller Verbitterung, ja Hass hatte sie ihre alte Urgroßmutter angegriffen und eine unversehrte Welt zurückverlangt, eine Natur, die so reich und vielfältig war wie die, die ihre Urgroßmutter zu Beginn des Jahrhunderts noch erleben durfte. Und dann war ein Wunder geschehen, denn plötzlich befand sie sich an diesem Beginn des Jahrhunderts, und alles Schlimme, was seit dem sechzehnten Geburtstag der Urgroßmutter geschehen war, war wiedergutgemacht. Nora war 72 Jahre in der Zeit zurückkatapultiert worden. Dieses Erlebnis steckte ihr natürlich noch in den Gliedern. Sie und mit ihr die ganze Welt hatten eine zweite Chance erhalten, und das alles hing mit dem geheimnisvollen Ring zusammen.
Was für ein Tag! Sie hatte das Gefühl, an der Schwelle zu einer neuen Zeitrechnung zu stehen. Denn jetzt konnte alles noch einmal von vorn beginnen. Die Welt war neu, funkelnagelneu, alles war verziehen, und all die ausgerotteten Tier- und Pflanzenarten waren reinstalliert. Eine ganze Million von Arten war wieder da, zurück in ihren alten Lebensräumen.
Aber noch immer schwebten Millionen von Arten in höchster Gefahr. Nora hatte schon viele beängstigende Reportagen darüber gesehen und gelesen. Trotzdem war es noch nicht zu spät, noch war die biologische Vielfalt der Welt zu retten. Die Welt hatte noch einmal eine Chance bekommen!
Als Nächstes fiel Nora der geheimnisvolle Brief ein, den Nova im Netz gefunden hatte. Es war ein Brief, den die Urgroßmutter Nora ihrer Urenkelin lange, lange vor deren Geburt geschrieben hatte. Aber was hatte in dem Brief gestanden?
Sie sprang aus dem Bett,
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