21 - Stille Wasser
bereits seit mehreren Stunden unterwegs, allesamt gekleidet in knallgelbe Öljacken und Jeans. Einige von ihnen schleppten Bündel mit sich, andere ließen die Lichtkegel von Suchscheinwerfern über den Sand wandern, während sie, fröstelnd in der immer noch von nächtlichen Schatten beherrschten Morgendämmerung, den Weg von der felsgesäumten Straße hinunter zum Wasser zurücklegten.
Die Arbeit war mühselig und zermürbend und Erfolgserlebnisse rar.
»Ich hab einen!«
Der Ruf erklang von weiter unten am Strand, und Willow Rosenberg rannte los, um zu Hilfe zu eilen; auch sie trug ein großes Bündel bei sich, an dem sie nun mit in Arbeitshandschuhen steckenden Fingern unbeholfen und hektisch herumzerrte. Noch im Laufen kramte sie schließlich einen dicken, trockenen Lappen hervor und reichte ihn dem Gefährten, als sie bei ihm angekommen war.
Sie hoffte inständig, dass dies einer der seltenen Erfolgsmomente war.
»Oh, das arme Ding!«, entfuhr es ihr, als sie dem im Sand knienden Helfer über die Schulter blickte. Vor ihm lag, zitternd und schwach, ein großer, spitzschnabeliger Vogel, eine Heringsmöwe, soweit Willow es beurteilen konnte. Das normalerweise weißlich graue Federkleid war mit einer zähen dunklen Masse überzogen, das traurige Ergebnis jenes Zwischenfalls, der sich in der vergangenen Nacht vor der Küste auf einem Öltanker abgespielt hatte und bei dem große Mengen an Rohöl ausgelaufen waren.
Immerhin war der Vogel noch am Leben.
»Glaubst du, er schafft es, Sean?«, fragte sie.
»Ja, ich denke, wir bekommen ihn wieder hin«, beruhigte sie der Rettungshelfer. »Ich bring ihn erst mal zum Wagen«, fuhr er fort, während er die Möwe fachmännisch von groben Ölklumpen befreite und vorsichtig in eine Decke hüllte. »Schau, ob du noch mehr von ihnen finden kannst. Aber denk daran, du darfst sie auf keinen Fall anfassen. Ruf einfach und warte, bis ich komme.«
»Alles klar«, erwiderte das rothaarige Mädchen und sah Sean, der mit seiner Öljacke und Baseballmütze einen ausnehmend tatkräftigen und souveränen Eindruck machte, dabei zu, wie er die Decke mitsamt dem Vogel vorsichtig in die Arme nahm und in Richtung Straße davonstapfte, wo ein Fahrzeug mit der Aufschrift Organisation zur Rettung der Meerestiere darauf wartete, das Bündel in Empfang zu nehmen.
»Armes Ding«, flüsterte Willow noch einmal, dann wandte sie sich um, bereit, die gesamte Küste Kaliforniens abzuschreiten, falls es sich als nötig erweisen sollte. Angewidert blickte sie auf den Sand, dessen perlmuttfarbenes Schimmern unter der gleichen klebrigen Pampe begraben lag, die dem knappen Dutzend Vögel, das sie bereits gerettet hatten, zum Verhängnis geworden war. Etwas früher am Morgen war der Übertragungswagen eines TV-Senders hier aufgetaucht, doch die schleppende und wenig actionreiche Suche nach ölverkleisterten Tieren schien dem Nachrichtenteam das Filmmaterial nicht wert gewesen zu sein, und so war es weitergefahren, um anderenorts nach aufregenderen Ereignissen zu fahnden, über die es zu berichten lohnte. Ölverschmutzte Strände lockten eben niemanden mehr hinter dem Ofen hervor.
Seufzend setzte sich Willow in Bewegung. Sollte ich jemals diejenigen in die Finger bekommen, die für diesen Schlamassel verantwortlich sind, ging es ihr durch den Kopf, werde ich sie in Frösche verwandeln und in die widerlichste Kloake schmeißen, die ich finden kann. Mal sehen, wie es ihnen gefällt, von Kopf bis Fuß in irgendeiner ekelhaften Brühe zu stecken und keine Luft mehr zu bekommen!
Für viele der Vögel, die sie an diesem Morgen am Strand aufgelesen hatten, war jede Hilfe zu spät gekommen. Der Anblick ihrer hilflos und unbeweglich daliegenden Körper hatte Willow mit maßloser Wut erfüllt. Und was es noch schlimmer machte, war die Gewissheit, nicht wirklich etwas gegen die Urheber dieser Tragödie unternehmen zu können. Anwälte würden sich mit der Angelegenheit befassen, und bis zu einem Urteilsspruch konnten Jahre vergehen, während derer sie nichts anderes tun konnten, als den Dreck wieder zu beseitigen.
Aber dieser eine lebt noch, rief sie sich ins Gedächtnis. Viele von ihnen werden überleben, weil wir hier sind.
Eine mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf, die der ihrer Mutter erstaunlich ähnelte, erinnerte sie daran, dass heute ein völlig normaler Schultag war und sie den Anforderungen des Alltags nur schwerlich würde gewachsen sein, wenn sie nicht vorher wenigstens ein bisschen geschlafen
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