21 - Stille Wasser
Himmel! – immer noch auf dem Tisch lag.
Nicht gut. Ganz und gar nicht gut...
Sie warf Oz, der sich nicht vom Tisch fortbewegt hatte, verzweifelte Blicke zu. Er zog irritiert die Augenbrauen zusammen, dann sah er auf den Gegenstand hinab, auf dem seine Hand ruhte. Langsam, ganz langsam trat ein Ausdruck des Begreifens in seine Züge.
Mit einer lässigen Bewegung ließ er sich auf den Stuhl fallen, blätterte wie suchend in dem Buch herum, das Giles liegen gelassen hatte, und zog Willows Notebook näher zu sich heran, als wollte er seine unterbrochene Recherche fortsetzen. Gleichzeitig gelang es ihm, das Seehundfell mit dem Arm über die Tischkante zu bugsieren, sodass es auf seinen Knien landete, wo es halbwegs vor neugierigen Blicken verborgen war.
Nicht optimal, aber es wird reichen müssen, stellte Buffy fest.
»Sie haben Recht«, sagte Dr. Lee mit einem Ton des Bedauerns, »ich glaube nicht, dass wir noch etwas finden werden. Es sei denn...«
Er machte einen Schritt auf Giles’ Büro zu, als sei ihm soeben eingefallen, dass dort ja möglicherweise noch weiteres Informationsmaterial lagern könnte, doch geistesgegenwärtig sprang Willow auf und versperrte ihm den Weg.
»Da ist nichts drin«, brabbelte sie los, »nur, Sie wissen schon, Bücher. Völlig veraltete Bücher. Nichts, was Ihnen weiterhelfen könnte, glauben Sie mir.«
Gut gemacht, Will, dachte Buffy. Das wird ihn bestimmt davon überzeugen, dass wir hier nichts zu verbergen haben. »Komm schon, Will, du weißt doch, dass dort die kompletten Jahrgänge von Geheimnisse des Meeres rumfliegen, von 1890 bis 1910.« Sie schenkte Dr. Lee ihr unschuldigstes ›Gott-bin-ich-blond‹-Lächeln. »Was red ich da nur? Damit können Sie sicherlich sowieso nichts anfangen, oder? Ich meine, das ist alles sooo lange her, das interessiert heute bestimmt niemanden mehr!«
Ihre Blonde-Torte-Nummer nötigte ihm lediglich den Hauch eines Lächelns ab. »Nein, meine Gute. Natürlich nicht.« Er blickte in die Runde und deutete eine Verbeugung an. »Verzeihen Sie, dass ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch genommen habe.«
Die Bibliothekstür fiel hinter ihm mit einem klickenden Geräusch wieder ins Schloss und Lee fragte sich verärgert, wie er es hatte zulassen können, von diesem auf Tweed versessenen Bibliothekar auf solch plumpe Art und Weise abgefertigt zu werden. Sie wussten etwas, er konnte es förmlich riechen. Es stank hier gewaltig nach Geheimniskrämerei.
Nachdem Ritchie ihm davon berichtet hatte, dass ein junges Mädchen den Strand an jenem Morgen nach der Ölkatastrophe angeblich in größter Eile verlassen habe und davongeradelt sei mit etwas im Arm, das sich krampfhaft an ihr festzuklammern schien... Es war nicht schwierig gewesen herauszufinden, wer dieses Mädchen war, wo sie wohnte und an welchen Orten sie für gewöhnlich anzutreffen war. Sie waren clever genug gewesen, keine unzweideutigen Hinweise in der Bibliothek herumliegen zu lassen, und einen Haussuchungsbefehl konnte er schwerlich erwirken. Aber nach elf Jahren der ununterbrochenen Jagd gab es für ihn keinen Zweifel.
Sie verbargen ein Selkie.
Was soll’s. Es kann mir nicht mehr entkommen, dachte Lee.
Nachdenklich ging er weiter und wäre um ein Haar mit einer hoch aufgeschossenen, langbeinigen Brünetten zusammengerannt, die gerade den Gang entlanggetippelt kam.
»Oh.«
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, entschuldigte er sich höflich. »Ich fürchte, ich war ein wenig abwesend.«
»Das geht den meisten so, wenn sie aus der Bücherei kommen«, erwiderte das Mädchen. »Überall ist es besser als an diesem Ort.«
Hellhörig geworden, betrachtete er seine neue Bekanntschaft etwas genauer. Möglicherweise eine Verbündete? Ja, möglicherweise, wenn er es geschickt anstellte...
»Das klingt ja beinahe so, als hätten Sie bereits die ein oder andere Auseinandersetzung mit dem Bibliothekar gehabt, diesem Mr....«
»Giles«, sagte sie und warf ihr Haar mit einem gekonnten Kopfschwung nach hinten, sodass es wieder perfekt über ihre Schultern fiel. »Eigentlich ist er gar nicht so übel. Ein bisschen spießig vielleicht, aber –“
»Aber die Schüler, die dort herumhängen?«
Lee konnte auf eine jahrelange Erfahrung im Umgang mit Teenagern zurückblicken. Zugegeben, meist handelte es sich dabei um Jugendliche im College-Alter, die ihm die Bude einrannten, um vom Institut einen Praktikumsplatz oder ein Stipendium bewilligt zu bekommen, doch im Grunde genommen waren sie, wenn es um
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