214 - Der Mann aus der Vergangenheit
unterschiedliche Hauttönungen anzufinden waren, von Schwarz bis zu mildem Schokoladebraun.
»Eine Entscheidung ist gefallen«, sagte Wabo nach einer Weile heftiger Diskussionen. »Man hält dich für einen Wahnsinnigen, aber auch für einen mutigen Mann. Sowohl den Einen wie auch den Anderen sollte man nicht aufhalten, so meint der Rat. Du erhältst für die Dauer deiner Vorbereitungen die Freiheit und wirst in regelmäßigen Abständen von deinen Fortschritten berichten…«
»Ich benötige Unterstützung«, unterbrach Jean-François forsch. »Ich kann die Rozière nicht alleine anfertigen. Zehn Leute, mindestens. Es können Frauen oder auch Halbwüchsige sein, denen ich genau erkläre, was sie zu tun haben.«
»Deine Frechheit kennt keine Grenzen.« Wabo blickte ihn wütend an.
»Das wurde mir auch andernorts schon ein- oder zweimal vorgeworfen.«
Pilâtre de Rozier bekam, was er wollte. So wie immer.
***
Die Bücher aus dem
Haufen
waren ihm Inspiration. Nicht mehr und nicht weniger. Nur die wenigsten vermittelten Wissen oder besaßen irgendeinen Informationsgehalt. Es befanden sich haufenweise Schundwerke darunter.
Amouröse Romane, die ihm die Schamesröte ins Gesicht trieben, manchmal auch mit verblichenen Bildern versehen, die ihm Teile der weiblichen Körperlichkeit näher brachten, die er niemals zuvor erblickt hatte.
Andere, meist dünnere und in mehreren Sprachen verfasste Schriften erzählten in kargen, kaum verständlichen Worten vom Aufbau seltsamer Gerätschaften. In einem Stapel von Magazinen fanden sich politische Essays, die ihn ahnen ließen, dass er sich irgendwo am Horn von Afrika befinden musste; wie auch immer er hierher gelangt war. In einem seltsamen Französisch abgefasste Artikel schilderten die wirtschaftliche und soziale Situation Afrikas im ausgehenden 20. Jahrhundert…
Lesen. Verstehen. Querschlüsse ziehen. Verwerfen, neu von vorne anfangen. Sich der Dinge erinnern, die er in seiner Pariser Zeit gelernt hatte. Sie mit jenen verknüpfen, die er in den hiesigen Schriften fand.
Darum kümmerte er sich während der Abend- und Morgenstunden. Der Tag selbst gehörte der Anfertigung der Stoffe und des Korbs für die Rozière. Er testete neue Materialien, die ihm das Land bot. Kleb- und Dichtmittel, ungemein wirksam, aus dem Knochensud gekochter Tsebras gezogen. In vielen Stunden gekautes Pflanzenmaterial, das den Bast riesiger Blätter verstärkte.
Stoff, der kaum entflammte, der über den Tag und Nacht brennenden Feuern geräuchert und abgedichtet wurde…
Neue Erkenntnisse. Alte Erkenntnisse. Vermischungen.
Erfahrungen. Sensationen, Hochgefühle, Enttäuschungen.
Noch mehr Enttäuschungen.
Ein Neuanfang. Das Gefühl, den Durchbruch geschafft zu haben. Euphorie. Weitere Rückschläge.
Müdigkeit, unendliche Müdigkeit.
Alles vermischte sich, alles ließ ihn durch die Tage und Woche taumeln. Er trieb durchs Leben, angefeuert von seinem eigenen unbändigen Willen und einem Ehrgeiz, der keine Grenzen zu kennen schien.
Jean-François lernte die Tsetses am eigenen Leib kennen. Sah, wie sie über das Dorf kamen und konnte gerade noch rechtzeitig in Wabos Hütte flüchten, bevor sich mehrere der grüngelb schillernden Exemplare auf ihn stürzten. Er sah das unendliche Leid, das diese Ausgeburten der Hölle verbreiteten, nachdem zwei Kinderleichen auf den nahe gelegenen Feldern geborgen wurden.
Er verdoppelte seine Anstrengungen nochmals. Es gab keinen Schlaf und keine Ruhe und keine Rast mehr. Keine Rücksicht auf jene, die ihn unterstützten, und noch weniger auf seine eigene Gesundheit. Nichts mehr, nichtsnichtsnichts – bis er alles durchdacht hatte und die Roziere fertig gestellt war.
***
»Wir haben noch drei bis vier Wochen, bis sie erneut angreifen«, sagte Wabo. »Es bleibt dir also genügend Zeit, um dich auf deinen Einsatz vorzubereiten, Jafroizzar.«
Jean-François verzog nicht zum ersten Mal das Gesicht.
Er wünschte sich, die Eingeborenen würden ihn nicht bei seinem Vornamen nennen; so wie sie ihn aussprachen. Ja, Pilâtre de Rozier sollte künftig genügen, das brachten sie über die Lippen, ohne sich die Zunge zu verrenken.
»Falsch!« Er marschierte unruhig auf und ab. »Die Jäger und Fallensteller sollen ausrücken. Sie müssen feststellen, wo sich die Schwärme der Tsetses befinden. Wir können ihnen nur vor Beginn der Befruchtungstänze schaden.«
Wabo nickte ihm zu. »Ich werde dafür sorgen, dass sich die Männer auf den Weg machen.«
Längst
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