214 - Der Mann aus der Vergangenheit
wie die Wut in ihm hochstieg.
»Verloren.« Wabo zeigte ein grimmiges Lächeln, wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Du gibst dich schon wieder deinen Emotionen hin. Du fällst auf eine kleine Finte herein und lässt dich ablenken.«
»Ich verstehe.« De Rozier seufzte und setzte sich schicksalergeben wieder auf den Boden.
»An dem Tag, da ich dich nicht mehr reizen und da du deine Lektionen so weit gelernt hast, dass ich dich dem Volk der Ambassai präsentieren kann – an diesem Tag zeige ich dir den Haufen. Den Berg jener Relikte, den wir aus der Zeit vor dem Großen Nebel herüberretten konnten.«
Es sollten drei weitere Monate vergehen, bis Pilâtre de Rozier endlich so weit war.
***
»Diese Teile des Dorfes waren bislang tabu für dich«, sagte Wabo. »Man hätte dich getötet, wärst du hierher vorgedrungen. Es freut mich, dass du meiner Bitte entsprochen hast.«
De Roziers Wissen über die Rituale, Vorstellungswelten, Verhaltensweisen und Regeln der Ambassai war längst noch nicht allumfassend. Doch er wusste um seine Grenzen, und er konnte bereits sehr gut zwischen Ernst und Spaß unterscheiden. Also hatte er seine Neugierde gezügelt und den nördlichen Teil des Dorfs aus seinen Wanderungen bislang ausgespart.
Drei Hütten standen hier dicht an dicht. Ihre Mauern berührten sich beinahe, und es gab kein Durchschlüpfen.
Wollte man weiter vordringen, musste man entweder über die Strohdächer klettern oder den Weg durch einen der Eingänge wählen.
»Pajamba erwartet uns«, sagte Wabo. Er bückte sich und betrat die mittlere Hütte.
Pajamba. Narr, Medizinmann, Weiser. Er spielte seine Rollen. Je nachdem, welche seiner Identitäten gerade benötigt wurde. De Rozier hatte es längst aufgegeben, diese krude, missgebildete Gestalt verstehen zu lernen.
»Wabo!«, schrillte der Alte mit seiner viel zu hohen Stimme. »Welch Glanz in meiner Hütte! Und du bringst mir deinen stinkenden lambaa mit?«
De Rozier blieb stumm. Der Medizinmann war tabu.
Ihm durfte kein böses Widerwort gelten.
»Ich denke, er ist so weit«, sagte Wabo ungerührt. »Wir können ihm den Haufen zeigen.«
»Soso. Du hast darüber mit deinem Vater gesprochen?«
»Er ist mein Vater, aber nicht mein Herr, Pajamba. Seitdem ich das Mal des Wakudas auf meiner Stirn trage, entscheide ich selbst über meine Taten.«
»Recht hast du, junger Wabo, Recht hast du. Aber verdient es dieses blasse, elende Geschöpf denn wirklich, unseren Schatz zu sehen?«
»Genauso wie du und ich.« Wabo verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich breit vor dem Medizinmann hin. Er wirkte imposant und selbstbewusst.
In diesen Augenblicken sah man ihm die Behinderung nicht an. Er wurde zum Krieger; zum Sohn eines Häuptlings.
»Dann sei es so, junger Wabo«, sagte Pajamba leise.
»Ich vertraue deiner Urteilskraft.«
»Ich danke dir.«
Wabo marschierte durch die Hütte. Vielerlei Fetische hingen von der Decke, und seltsame Gerüche durchzogen den Raum. De Rozier achtete nicht weiter darauf. Die wahren Wunder erwarteten ihn, so hoffte er, an der Rückseite des Gebäudes.
Sie durchschritten einen Vorhang aus Bambussprossen.
Ein kleines Licht brannte hier. Wabo nahm es an sich und führte de Rozier eine schmale Treppe hinab.
»In einen Keller?«, wunderte der sich. »Beim Wort Haufen dachte ich an einen Hinterhof, in dem diese wundersamen Relikte gestapelt liegen.«
»Worte fangen nicht immer den Sinn und Wert einer Sache ein.« Wabos Stimme klang hohl. Ein leises Echo antwortete ihm. »Wir würden es niemals wagen, unsere wertvollsten Schätze einfach so der Witterung auszusetzen. Hältst du uns etwa immer noch für blöd?«
Nein. Das tat er nicht. Es fiel ihm schwer, es sich einzugestehen, aber die meisten Menschen hier besaßen mehr Grips als jene tumben Kretins, denen er im Laufe seines Lebens in den Dörfern und Städten Frankreichs, Belgiens, Englands und Österreich-Hollands begegnet war.
Und sie waren alle frei.
Die Treppe endete. De Rozier tastete über das Gestein des Gangs. Es war grob behauen, und es fühlte sich kalt an.
»Erschrick bitte nicht«, sagte Wabo. »Du wirst nun etwas Außergewöhnliches erleben.«
Nichts konnte ihn mehr überraschen. Sein Traum entwickelte sich derart verrückt, dass…
Licht blendete ihn. Sein Schein drang von der niedrigen Decke herab. Es war kalt, und es war so schrecklich grell.
»Dies ist der Schein der Elektrizität, mein Freund; sie ist der wundersame Grund für die Helligkeit
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