2154 - Größer als das Leben
gezogen wurden, doch nichts geschah. Die Wochen vergingen. Während die anderen Rekruten sich mit Wahnvorstellungen herumschlugen, bekämpften Sogtan und Kresto sich als reale Gegner. Sie bewiesen gewaltige Phantasie, wenn es darum ging, sich Fallen auszudenken und sich gegenseitig in Hinterhalte zu locken. Und schließlich, als sie mit Dutzenden anderer Rekruten in „Funktionaler Strategie der Inquisition der Vernunft" unterrichtet wurden und einander hasserfüllte Blicke zuwarfen, entfesselten sie eine Brutalität, die alles Bisherige weit in den Schatten stellte.
Sogtan hatte auf einmal den Eindruck, als werde in seinem Kopf ein Schalter umgelegt. Der Schulungsraum mit seinem großen Holobildschirm erstrahlte in loderndem Rot ... Und er verlor die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, hatte er verschwommene Erinnerungen an hemmungslose Kämpfe gegen einen Dämon. Er hatte Blut unter den Fingernägeln, und sein Gesicht war zerkratzt. Ein Blick auf seinen Bruder, der in einem Krankenbett neben ihm lag, bestätigte ihm, wer sein Gegner gewesen sein musste: Kresto sah nicht viel anders aus. Es war wie damals, als sie sich in der Ohnmacht des Mutterleibs bis aufs Messer bekriegt hatten.
Sogtan war mittlerweile der festen Überzeugung gewesen, gegen Wahnvorstellungen gefeit zu sein, und hatte fast schon ein wenig mitleidig auf seine Kameraden geschaut, die ständig gegen Halluzinationen ankämpften und ihren eingebildeten Kampf oft genug mit dem Leben bezahlten. Auch von seinem Zwilling hatte er geglaubt, er wäre gegen diese Einflüsse immun. Aber Kresto war es genauso ergangen wie ihm, und Sogtan wusste auch, dass sie in ihrem Wahnsinn blind vor Raserei gewesen sein mussten. Er begriff nicht, dass man ihnen so etwas durchgehen ließ - aber er genoss es, seinen Bruder ins Verderben zu treiben.
Als Sogtan schon meinte, ebenso wie sein Bruder einen Freibrief in Sachen Gewalt zu haben, weil sie voller Wohlgefallen auf ihre gemeine Heimtücke und ihr brutales Kalkül blickten, nahm ihr Ausbilder sie bei einem Hallentrainung zur Seite. Sogtan fühlte sich sofort gedemütigt. Obwohl er immer noch nicht wusste, wer sie eigentlich waren, empfand er inzwischen die größte Hochachtung vor den Organisatoren seiner Ausbildung. Und der Ausbilder, der sich erdreistete, sie zur Seite zu nehmen, war ein Di'Valenter. Ein erbärmlicher Di'Valenter!
Als Kind habe ich euch für eure Tapferkeit und Hingabe verehrt, dachte Sogtan, verehrt und beneidet. Aber da wusste ich es nicht besser. Inzwischen weiß ich, dass andere erheblich Größeres leisten. Er folgte dem Ausbilder mit Kresto in einen verglasten Raum am Rand der riesigen Halle. Dort wies der Di'Valenter auf zwei Stühle und wartete, bis die Zwillinge sich gesetzt hatten. Dann nahm er ebenfalls Platz. „Ich soll euch etwas klarmachen", grollte er und lehnte sich mit sichtlichem Behagen zurück. „Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr den Kanister nicht lebend verlassen." Kresto sagte vorsichtig: „Wir haben stets versucht, unsere Streitereien nur untereinander auszutragen. Sollte jemand Drittes zu Schaden gekommen sein ..."
„Ihr versteht mich falsch", unterbrach ihn der Ausbilder. „Einer von euch könnte den Tod finden." Die Nüstern der Zwillinge blähten sich beunruhigt. „Wie ich eurer Biografie entnehme, versucht ihr schon seit eurer Kindheit, euch gegenseitig umzubringen." Der Di'Valenter verschränkte die Arme. „Ein Wunder, dass es euch nicht geglückt ist. Aber das ist jetzt vorbei. Ich soll euch sagen, dass ein solches Verhalten nicht länger geduldet wird."
„Warum will man es uns verbieten?", fragte Sogtan. „Welches Interesse hat Tradom daran, dass ausgerechnet wir am Leben bleiben?", meinte Kresto. „Um uns herum sterben täglich Rekruten." .Der Ausbilder knurrte empört. So viel Vermessenheit war ihm anscheinend noch nicht untergekommen. Er beugte sich vor und funkelte Kresto Kapellme durch seine schwarze Brille hindurch an - die Schnauze vorgereckt, die Hände auf den Schenkeln. „Wie kannst du dir anmaßen, über dein Leben selbst zu befinden?", bellte er mit abgehackten Worten. „Jeder hier stellt Kapital des Reiches dar, in das mittlerweile viel Geld investiert wurde, und das Reich Tradom duldet keine Vernichtung seines Kapitals." Er hielt inne und lehnte sich wieder zurück.
Sogtan sah, wie seine Nüstern pulsierten. Der Di'Valenter begriff, dass er beinahe die Fassung verloren hätte. „Ihr werdet nur einmal gewarnt", fügte er leise hinzu.
Weitere Kostenlose Bücher