22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
aus abgeschnitten sei. Als der Anführer der letzteren die Vernichtung sah, war er nicht etwa enttäuscht, sondern er rief ganz im Gegenteil sehr erfreut aus: „Die Brücke ist eingestürzt! Welch ein Glück für uns! Wenn die Dschamikun morgen kommen, können sie nicht hinüber und sind gezwungen, sich uns zu ergeben! Wir haben nun gar nicht nötig, die Brücke zu besetzen, und können uns also alle daran beteiligen, die Feinde hier hereinzutreiben!“
Das gab eine allgemeine Freude, an welcher wir beide uns freilich nicht beteiligten. Halef war nämlich mehr vom Pferd herabgefallen, als herabgestiegen. Ich nahm ihn in den Arm und führte ihn zu einer Stelle, welche ich zum Lagern für die beste am ganzen Platz hielt. Dort legte ich ihn nieder, holte seinen Sattel zum Kopfkissen und wickelte ihn in seine und in meine Decke ein, denn ich sah, daß der Frost ihn förmlich schüttelte. Die Zähne schlugen ihm zusammen. Er schien am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Noch hatte ich ihn nicht ganz eingehüllt, so riß er die Decken wieder weg, richtete sich in sitzende Stellung auf und sagte, indem er mich mit weit aufgerissenen Augen angstvoll anstarrte: „Sihdi, müssen wir hier bleiben?“
„Ja“, nickte ich.
„Die ganze, ganze Nacht?“
„Ja.“
„Da sterbe ich! Ich fühle, daß ich es hier nicht aushalte, daß ich fort muß, daß es mein Leben kostet, wenn ich bleibe!“
„Zurück können wir unmöglich!“
„Aber vorwärts?“
„Die Brücke ist weg!“
„Wir haben die Pferde! Der Spalt ist schmal. Wir springen hinüber!“
„Halef!“ rief ich erschrocken. „Das würde Wahnsinn sein!“
Da preßte er die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, als ob er alle seine Kräfte herbeizwinge. Es gelang ihm, die Schwäche noch einmal zu besiegen. Er stand auf, ging hin an den Spalt, wo die Brücke gelegen hatte, und maß die Entfernung der gegenüberliegenden Kante mit scheinbar ruhigem Auge. Dann drehte er sich zu mir um und sprach: „Sihdi, erhöre mich! Es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Bitte, die ich in diesem Leben zu dir sage. Ich habe dich belogen, denn ich wollte dich nicht beängstigen. Meine Krankheit ist schlimmer, als du denkst. Ich habe mit allen Kräften gegen sie gekämpft, ohne es dir einzugestehen. Diese Kräfte sind alle; sie reichen nur noch zu dem letzten Sprung dort hinüber. Dann breche ich zusammen, und du sollst mich pflegen. Willst du diesen Sprung mit mir wagen?“
„Halef, mein lieber, lieber Halef!“ antwortete ich kopfschüttelnd, nicht aus Angst vor dem Wagnis, sondern aus Herzenssorge um ihn.
„Laß mich nicht viele Worte machen, denn sie rauben mir die Kraft, die ich nötiger brauche. Durch den Gang können wir nicht zurück. Das erfordert zu viel Zeit, und die Massaban würden uns auch nicht lassen. Bleiben wir aber hier, so weiß ich, daß ich verloren bin. Allein aber kann ich unmöglich fort. Sihdi, mein Sihdi, hast du mich noch lieb?“
„So lieb, wie noch nie, mein Halef!“
„So denk an den fürchterlichen Sprung damals, den du auf deinem herrlichen Rih über die ‚Spalte des Verräters‘ tatest. Assil leistet im Springen ganz dasselbe wie sein Vater Rih, und dieser Riß hier ist ganz gewiß nicht so breit, wie jene Spalte war!“ Ich legte ihm beide Hände an die Wangen, küßte ihn auf den Mund und sah ihm dann in das Gesicht. Es hatte noch nie einen so liebevollen, aber auch noch niemals einen so entschlossenen Ausdruck gehabt. Es war wirklich sein Leben, um welches es sich handelte. Es mußte gerettet werden!
„Wirst du denn fest im Sattel sitzen?“ fragte ich. „Nur noch zwei Minuten fest?“
„Ich schwöre es dir bei Allah zu, Sihdi!“
„Gut, dann sei es gewagt! Bleib du ruhig stehen. Ich werde die Vorbereitungen treffen.“
Die Massaban hatten damit zu tun, ihre Pferde zu versorgen und es sich dann möglichst bequem zu machen. Sie achteten infolgedessen nicht besonders auf uns. Ich legte Barkh den Sattel wieder auf, schnallte die Decken an Ort und Stelle und untersuchte mit ganz besonderer Vorsicht die Lage und die Festigkeit der Bauchgurte. Während ich das tat, sagte Halef:
„Sihdi, die Pferde können keinen weiteren Anlauf nehmen. Sage ihnen also, um was es sich handelt! Sie werden dich verstehen.“
Ich führte die Rappen also ganz hart an die Spalte, so daß sie mit den Köpfen gegen dieselbe standen.
„Natt, natt – springen, springen!“ sagte ich, indem ich sie streichelte. Da hoben sie die Schwänze;
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