221 - Feindliche Übernahme
hatte, und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde das Bild für sie.
Rüstü hatte behauptet, jemand, der genau so aussah wie sie, wäre vor einer Woche aus dem Grab gekommen und in die Wüste geflohen. Das aber konnte nicht sein. Die einzig logische Erklärung wäre die, dass jemand ihre Gestalt angenommen hatte.
Grao’sil’aana! Also war es der Daa’mure gewesen, der sie und Hadban verfolgt hatte. Mich hat er niedergeschlagen und ins Grab gesperrt. Hadban wird er wohl umgebracht haben.
Danach hat Grao meine Gestalt angenommen. Aber warum?
Daa’tan kann er damit nicht auf Dauer täuschen…
Aber natürlich: Er wollte mich von Anfang an loswerden, um wieder Einfluss auf Daa’tan ausüben zu können! Also ist er in meiner Gestalt in der Wüste verschwunden und als er selbst aufs Schiff zurückgekehrt. Vielleicht… nein, bestimmt hat er mir auch noch Hadbans Ermordung untergeschoben und Daa’tan weisgemacht, ich wäre geflohen. Wenn er nach mir gesucht hat, dann in der Wüste, aber nicht bei den Tempeln.
Orguudoo soll diese dreimal verfluchte Echse holen! Wenn ich den Kerl in die Finger kriege, schneide ich ihm die Schuppen einzeln vom Körper!
Die Wut gab Aruula neue Kraft. Und festigte den Plan in ihr, ihrem Sohn und seinem daa’murischen Begleiter hinterher zu reisen. Sie kannte ja deren Ziel: die Wolkenstädte im Süden.
Wie sie allerdings Nefertari davon überzeugen sollte, das wusste sie noch nicht. Verdammte Geistwanderin!, dachte sie grimmig. Kannst du dir nicht einen anderen Körper aussuchen? Muss es denn ausgerechnet der meine sein?
***
Sümpfe von Akaaga, Mitte Juni 2524
Seit zehn Tagen zogen Daa’tan und Grao nun schon hinter den Huutsi her durchs Land der tausend Hügel. Die Armee kam für ihre Größe und augenscheinliche Schwerfälligkeit gut voran. Wo sie entlang gekommen war, wuchs kein Gras mehr.
Immer wieder musste sie kleinere Flüsse durchqueren, die sich kreuz und quer durch die fruchtbare Landschaft schlängelten.
Schließlich erreichte der Tross ein ausgedehntes Sumpfgebiet.
Er kam ins Stocken. Yao ließ anhalten und das Lager aufschlagen, obwohl es erst später Nachmittag war und die Sonne noch heiß vom Himmel brannte. Er schickte Kundschafter auf Tsebras aus, die eine gangbare Passage erkunden sollten. Daa’tan und Grao, auf einem Hügel hinter Felsen verborgen, sahen die Reiter ausschwärmen.
In der buschbewachsenen Ebene standen mächtige Bahbab-Bäume, die fast so breit wie hoch waren. Unter einem von ihnen wurde das Zelt des Königs errichtet. Auch den Thron stellten die Diener unter die schattige Krone des uralten Baumriesen.
»Das ist die Gelegenheit, auf die ich gewartet habe«, sagte Daa’tan. Er beugte sich nach vorn und stützte sich auf dem Sattelknauf ab. »Noch bevor es dunkel wird, gehört die Armee mir und für Yao wird’s dann nie wieder hell.« Er kicherte.
»Willst du nicht doch lieber warten, bis es Nacht geworden ist? Das würde unsere Chancen beträchtlich erhöhen.« Daa’tan von seinem Vorhaben abzubringen, hatte Grao längst aufgegeben.
»Nein. Alle Huutsi sollen Zeuge sein, wie ich Yao besiege, und sehen, welche Macht ich habe. Sonst glauben sie noch, sie könnten einen Aufstand gegen mich machen.«
Daa’tan ritt los, in die Ebene hinunter. Grao blieb dicht hinter ihm. Als sie die ersten Krieger erreichten, musterten diese sie voller Feindseligkeit und umringten sie. Speere wurden ihnen entgegen gereckt und ließen ihnen kaum Platz.
Die Tsebras tänzelten nervös.
Daa’tan blieb gelassen. Er grinste sogar. »Sagt eurem Obermufti, dass ich wieder da bin.« Dieses Wort hatte er einst in El Assud aufgeschnappt.
Die Soldaten schickten einen Boten zum König. Kurze Zeit später ritt eine dunkelhäutige Frau heran. Eine Wawaa also. Sie bleckte zugespitzte Zähne; eine ihrer Augenhöhlen war leer.
»Ich bin Banta«, sagte sie auf Arab. »Und ich nehm euch gefangen. Ihr folgt mir ohne Widerstand zum König Yao, oder die Soldaten da werden euch ‘n Speer in den Arsch stecken, bisser zum Maul wieder rauskommt.«
»Reizende Vorstellung«, erwiderte Daa’tan. »Natürlich kommen wir mit. Zu Yao wollten wir ja ohnehin.«
Von den Soldaten umringt, ritten sie hinter der Wawaa her.
Daa’tan schaute gleichgültig über die Menge. Er schien plötzlich abwesend zu sein und das war er auch. Er konzentrierte sich nämlich auf etwas völlig Anderes.
Sie fanden Yao wie beim ersten Zusammentreffen vor: Auf dem Thron sitzend und
Weitere Kostenlose Bücher