2216 - Tau Carama
„Nicht singen!", wollte sie rufen, aber in ihrem Hals saß ein dicker Kloß. Außer einem jämmerlichen Krächzen brachte sie nichts zustande.
Die ersten Töne des Chorals dienten dem Einstimmen. Als die Sänger eine gemeinsame Tonlage gefunden hatten, ließen sie den ersten Zweiklang folgen. Nach und nach kristallisierte sich aus den Tönen so etwas wie eine einheitliche Grundstimmung der Sängerinnen und Sänger heraus.
Intake hatte es befürchtet. Die Motana empfanden Dankbarkeit und Euphorie. Ohne genau zu wissen, warum es so war, empfand sie diese Grundstimmung ihrer Artgenossen als Gefahr. „In diesen Tagen braucht keiner zu verzagen, warnen Lauscher Tag und Nacht, in sternenweite Fernen sie sich wagen, halten ewig während Wacht.
Bei Irthumos wildem Grollen sie den Mächten Achtung zollen."
Langsam kam der Choral in Fahrt. Noch unterschied Intake die einzelnen Worte, doch bald verschwammen die Silben, verwandelten sich die jamischen Begriffe in fremdartige Silben und Lautkombinationen. Die junge Motana dachte sich nichts dabei, diese Verballhornungen gehörten zu jedem guten Choral. Sie symbolisierten die Schritte, in denen sich die Sänger immer weiter von ihrer realen Wahrnehmung entfernten, bis irgendwann die Grenze kam.
Spätestens wenn den Sängern die Kontrolle entglitt, bedurfte es eines erfahrenen Artgenossen, der den zwanghaft sich steigernden Gesang unterbrach, ihn gewissermaßen zerstörte, bevor er eine gefährliche Intensität annahm. Diese spezielle Kunst galt als verfemt.
Die Motana wussten aus leidvollen Erfahrungen in der Vergangenheit, dass sie mit solchem Gesang nur Schaden anrichteten.
Auch dieses Mal würde es nicht so weit kommen. Es sei denn, Phandera schlief noch immer und überließ die Kontrolle anderen Frauen.
Intake spürte den Griff der Freundin an ihrem Handgelenk. „Schnell weg von hier!", stieß Intake hervor. „Der Schmerz kommt mit Macht. Es tut weh."
Sie fing an zu wimmern, presste die Fäuste gegen die Schläfen und rannte davon. „Bleib stehen!", hörte sie die Stimme der Nestfreundin wie von fern. Vor ihr gähnte übergangslos ein Abgrund. Sie konnte ihren Schwung nicht mehr bremsen, machte die nächsten beiden Schritte und trat ins Leere.
Es war, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Hände krallten sich in ihren Lederschurz, hielten sie fest. Am Rand des Abgrunds stürzte sie zu Boden. Undeutlich nahm sie zwei, drei Motana wahr, die an ihr zogen und zerrten. „Das war knapp", klagte Noreike. „Fast wärst du in die Tiefe gestürzt."
Schwankend kam Intake auf die Beine. „Sie ist wieder da, die fremde Kraft. Sie ist sehr stark. Norei-Norei, sie sollen aufhören, den Choral zu singen !"
Die Freundin sprach mit einem der Männer, der sich daraufhin entfernte.
Intake zerrte Noreike zur nächsten Treppe. „Schnell hinab, solange ich noch etwas sehe."
Je tiefer sie stiegen, desto klarer wurde ihr Kopf. Erst drunten im freien Gelände, als sie sich weit genug von der Anhöhe entfernt hatten und Intake Sichtkontakt zu den Hütten erhielt, kehrten die bohrenden Gedanken zurück. Erneut empfand Intake es so, als säße in ihrem Kopf ein anderes Wesen, das die Kontrolle über sie erringen wollte. Wenn sie sich dagegen wehrte, nahm der Schmerz zu. Also gab sie nach, damit er sich in erträglichen Grenzen hielt.
Die beiden Mädchen hetzten den Pfad entlang, weg von Oreschme bis zum Ufer. „Es ist stärker als je zuvor", keuchte Intake. Sie sah die Umrisse der Trümmer nur verschwommen. Das Meer bildete mit dem Sand eine gleichmäßige Ebene. Das Wasser rauschte leise, irgendwo weit vor ihr. „Weiter!", ächzte sie. „Sie sind noch zu nah. Ich höre sie singen."
Der Choral der unvergänglichen Vorsehung näherte sich seinem Höhepunkt. Noch immer wagte keiner in Oreschme, ihn zu unterbrechen.
Phandera - hatte sie es untersagt? Warum? Welchen Grund gab es, ihr diesen Wunsch zu versagen?
Intakes nackte Füße spürten Wasser.
Noreike sagte etwas, aber sie verstand es nicht. „Hier sollten wir stehen bleiben!", schrie die Freundin ihr ins Ohr. „Verschwinde!", herrschte Intake sie an. „Ich will dich nicht mit in den Tod reißen. Es ist viel stärker als bisher. Ich werde meinem Volk keine Hilfe mehr sein. Dazu bin ich zu gefährlich."
Sie rannte ins Wasser hinein. Undeutlich bekam sie mit, dass Noreike ihr folgte. „Verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist!", schrie sie über die Schulter zurück.
Noreike beachtete es nicht. Sie kam näher.
Der
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