2216 - Tau Carama
dem Noreike ihre Blöße bedeckte. Erleichtert spürte sie das Material zwischen den Fingern. Wenigstens der Tastsinn funktionierte noch normal.
In ihrem Kopf rumorte es. Wieder stieß ein unsichtbares Messer in ihren Körper, krümmte sie sich unter dem Schmerz. Ihre Finger ließen den Lederschurz der Freundin fahren.
Es ist Einbildung!, versuchte sie sich zu beruhigen. Das Messer existiert nicht.
Der Schmerz blieb. In ihren Schläfen pochte es immer lauter, ihr Blickfeld verengte sich. Sie sah die Umgebung plötzlich wie durch einen hohlen Baumstamm. Noreike entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit, ohne dass sie sich bewegte. Die Freundin winkte, dann verlor Intake sie aus den Augen.
Ihr Blick folgte der enger werdenden Röhre bis zum Meer. Sie sah nichts, und doch spürte sie etwas. Aus dem Schmerz kristallisierte sich nach und nach das Gefühl einer großen Gefahr. Für einen winzigen Augenblick bildete sie sich ein, dunkle Schlote zu sehen, die glutflüssiges Gestein nach oben in das Wasser des Ozeans schleuderten. Gleichzeitig spürte sie Hitze in sich.
Es kann nicht sein. Und doch schien es sich zu bewahrheiten.
Ore lag hoch über einer Zone unterseeischer Vulkantätigkeit. Mehrmals im Jahr rollten große Wellen über die Insel hinweg. Die Motana bezeichneten sie als Tau Carama. Die meisten von ihnen richteten keinen schwerwiegenden Schaden an.
Diesmal aber bedrohte die anrollende Tau Carama die Existenz der Motana. Intake spürte die Bedrohung. Sie sah den Vorgang durch den Tunnel hindurch. Selbst wenn sie die Augen schloss, blieb der Eindruck.
Dort vorn - das Unheil! Mit steifen Schritten setzte sie sich in Bewegung. Ab und zu glaubte sie einen winkenden Schatten am Ende der Röhre zu sehen.
Schneller!, redete sie sich ein. Du darfst keine Zeit verlieren!
Nach einer Weile nahm sie ein Murmeln wahr. Erst als sie nasse Füße bekam, erkannte sie, dass es sich um das Rauschen der Brandung handelte. „Tau Carama!", schrie sie, so laut sie konnte. Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme.
Gleichzeitig erweiterte sich schlagartig ihr Blickfeld. Sie stand am Strand unweit der Fischerboote. Das leise Plätschern der Wellen am Ufer unterschied sich nicht von dem, das sie kannte.
Intake rannte zu den Gerüsten der Bootsbauer. „Die Tau Carama kommt! Gewaltig und groß rollt sie heran! Bringt euch in Sicherheit!"
Ein Großteil der Frauen und Männer reagierte überhaupt nicht. Ein paar hielten in ihrer Arbeit inne, sahen zu ihr herüber und lachten. „Mädchen, du bist ein Schelm. Woher willst du wissen, wann eine Tau Carama kommt? Sieh dir den Himmel an!" Die Wolken zogen von Nord nach Süd. Es ging fast kein Wind. Die Luft war mild wie meistens. „Wo soll da eine Flutwelle herkommen?"
Intake deutete ohne Zögern in eine bestimmte Richtung. „Aus Osten! Rennt um euer Leben!"
Sie hastete weiter. Ein leises Rascheln begleitete sie, wenn ihre Füße Sand zur Seite schleuderten.„Intake!" Jetzt erst nahm sie die Anwesenheit ihrer Freundin wieder wahr.
Noreike holte auf und rannte neben ihr her. „Bist du ganz sicher?"
„Ich spüre es. Die Gefahr kommt rasend schnell näher!"Sie erreichte die Fischerhütten, schrie den Frauen und Männern die Warnung zu.„Tut, was sie sagt!", unterstützte Noreike ihr Bemühen.Sie ernteten ein freundliches Lachen. „Weiter!" Intake fing an zu keuchen. Langes Rennen war sie nicht gewohnt.
Noreike fiel ihr in den Arm. „Nicht hier entlang. Zum Dorf!"
Die Freundin ließ erst gar keine Widerrede zu, sondern zog sie mit sich fort. Sie stolperten die Böschung hinauf, rannten den Waldpfad nach Oreschme entlang. Immer wieder wandte Intake den Kopf, starrte zwischen den Bäumen hindurch zum Meer. Es lag ruhig, glitzerte freundlich in der Sonne. Bald war Mittag. „Schneller, Norei-Norei!"
Unterwegs trafen sie Frauen und Männer beim Beerenpflücken. „Tau Carama!", schrien sie ihnen zu. Wenigstens diesmal reagierten die Motana. Aber Intake vermutete, dass sie es nur deshalb taten, weil es von hier keinen Ausblick auf das Meer gab.
Endlich tauchte weit voraus die Anhöhe auf. Intake bekam Seitenstechen.
Noreike fasste sie an der Hand und zog sie mit sich. Dann aber erwischte es auch sie. Die beiden Mädchen liefen langsamer. „Tau Carama!" Aus Leibeskräften brüllten sie es, und die Beerenpflücker taten es ihnen nach. Die Warnung hallte durch den Wald bis zum Dorf. „Tau Carama kommt!"
Oreschme lag auf einem zentralen Plateau, dem einzigen Felsmassiv der Insel.
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